Rezension zu dem Buch: Günter Gödde und Michael Buchholz: Unbewusstes.
Psychosozial Verlag. Göttingen 2012.
138 Seiten.
Seit
2012 liegt von Günter Gödde und Michael Buchholz ein knapp gefasstes, dicht
geschriebenes und gut lesbares Buch über „Unbewusstes“ vor. Das ist insofern erfreulich,
als es über das Unbewusste eigentlich so viel mehr zu sagen gibt, wie die
beiden Autoren in früheren umfangreichen und anspruchsvollen Veröffentlichungen
gezeigt haben.
Die
beiden Autoren zeichnen in ihrem neuen Buch zunächst den geistesgeschichtlichen
Weg nach, den der Begriff des Unbewussten über Denker wie Leibniz, Kant,
Fechner, Herbart, Helmholtz, Wundt, Goethe, Carus, Schopenhauer, Nietzsche,
Eduard von Hartmann, Lipps bis hin zu Freuds Konzeption genommen hat. Wer in
seiner Berufspraxis täglich mit dem Begriff des Unbewussten arbeitet, sollte
meines Erachtens wissen, welcher geistigen Tradition Kind sie/er ist. Das Buch
von Buchholz und Gödde ermöglicht hier einen anregenden und kurzweiligen
Einstieg.
Anschließend
setzen sich die Autoren mit wichtigen Kritikern und Erweiterern von Freuds
Theorien und Methoden auseinander, z.B. mit Alfred Adler und Carl Gustav Jung.
Für Freud war das Unbewusste die Region der verdrängten Triebe, Wünsche und
Fantasien, die ins Bewusstsein zurückdrängen. Adler lag es dagegen –
so erfährt man im Buch – an einer „Entmythologisierung des
Unbewussten“. Als Ursache der Neurosen sah er „das Unbewusstwerden von
Machtstrebungen, die vom leitenden Persönlichkeitsideal abstammen, und
Fiktionen, die in diesem Interesse festgehalten werden müssen, damit sie einer
bewussten Anwendung und somit einer Erprobung und Beeinträchtigung entzogen
werden.“ Bei einem größeren „Fehlschlag“ stelle sich –
so Adler – die Frage einer fehlgeleiteten
Kompensation, ob man nicht zu angespannt und ungeduldig zu hoch hinausstrebe
oder gar Unerreichbares erzwingen wolle.
Jung
wiederum störte sich an der personalistischen Enge von Freuds Theorien. Er
ergänzte Freuds ontogenetische Sicht des Unbewussten durch seine phylogenetische
Sichtweise und führte das kollektive Unbewusste ein, zu verstehen als gewaltige
Erbmasse der Menschheitsentwicklung, die in jeder individuellen Struktur wiedergeboren
wird. Es sei bereits vor der Geburt vorhanden und manifestiere sich in
Archetypen, den universellen Urbildern in der Seele aller Menschen.
Das
Buch umreißt v.a. die Entwicklung der Pschoanalyse nach Freud, Adler und Jung.
Als Repräsentanten dieser Entwicklung werden z.B. Anna Freud, Melanie Klein,
Heinz Hartmann, Michael Balint, David Winnicott, Heinz Kohut, Wilfred Bion,
John Bowlby, Joseph Lichtenberg, Daniel Stern, Stephen Mitchell, Christopher Bollas,
Otto Kernberg, Harry Stack Sullivan und Stavros Mentzos erwähnt. Insgesamt
zeichnet sich eine immer stärkere Betonung der Intersubjektivität ab, wie die
Autoren aufzeigen.
Gefahren
für eine Fehlententwicklung der Psychoanalyse sehen Gödde und Buchholz in einer
zu einseitig „vertikalen“ Sichtweise des Unbewussten, die auch heute noch allzu
sehr das „Tiefe“, das „Abgewehrte“, „Verdrängte“ und „Unsichtbare“ betone und
dabei zuwenig die „Oberfläche“, das „Sichtbare“, die „Phänomene“ selbst beachte,
die sich in der Interaktion zwischen Patient und Therapeut abspielen. Wörtlich
heißt es im Buch: „Die Suche nach dem, was ‘dahinter steckt’, hat eine ‘Hermeneutik
des Verdachts’ hervorgebracht, als ginge es im Laufe eines psychoanalytischen
Prozesses darum, den Patientinnen und Patienten immerzu ‘nachzuweisen’, dass
sie ‘eigentlich’ etwas anderes meinen, als sie tatsächlich sagen.“ So neigten
Analytiker dazu, durch die Erzählung eines Patienten „hindurchschauen“ zu
wollen, statt auf die Erzähung selbst zu schauen. Auch bei der Analyse von
Träumen berge die deutende Suche nach deren „unbewussten Sinn die Gefahr, dass
sie in eine fragwürdige ‘Alles-ist-sinnvoll-Position’ einmündet“. Das
Unbewusste habe zwar „unendlich viel an Bedeutungsgehalt, Stimmungen,
Schwankungen, Instabilitäten, symbolischen Chiffren, Schattierungen,
Verknüpfungen von Ideen, Bildern und Worten“, das Wort „unbewusst“ dürfe aber
nicht „zum Zauberwort werden, das gar nichts mehr erklärt“.
Die
Autoren plädieren – als unverzichtbare Ergänzung zu der
traditionellen „vertikalen“ Sicht – für eine
„horizontale“ Sichtweise, für die das Unbewusste vor allem ein „soziales
Resonanzorgan“ bzw. ein „System sozialer Resonanzen“ darstellt. In der
Behandlungssituation komme es wesentlich darauf an, dass der Therapeutin/dem
Therapeuten „zunächst eine Ko-Regulierung von Affekten“ gelinge, dass sie/er zusammen
mit dem Patienten „einen dyadischen Bewusstseinszustand“ entwickle, „also eine
Ausrichtung der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Moment des
Erlebens“. Sinn der Behandlung sei, sich für die Vielschichtigkeit des Unbewussten
zu öffnen, statt sich allzu stark auf irgendeine vermeintliche Hauptsache zu fokussieren.
Auschlussreich sei z.B. nicht nur das Narrativ des Patienten, sondern auch die
Art des Erzählens und Zuhörens (die Oberfläche): „neben der Stimme das
Gestotter und Gestammel, die vielfachen Redestarts mit mehreren gleichzeitigen
Themen, die Verschachtelungen, die Hms und Ähms, die Pausen und Verhaspelungen
beim Reden und beim Zuhören ebenso wie das Sich-gegenseitig-Unterbrechen, das
schnelle Anschließen, der Kampf ums Rederecht, das trotzige Schweigen“. Das
„kleine, viel zu wenig beachtete Wunder“ sei, „dass wir in Gesprächen mit all
diesen Stottereien recht gut zurechtkommen und dass manchmal schon etwas
verstanden wird, bevor es überhaupt gesagt ist – eben weil es
Resonanzen gibt“. Und: „Kommt es zur emotionalen Resonanz zwischen einem Therapeuten
und seinem Patienten, dann regulieren sich auch psychophysiologische Momente.“
Gödde
und Buchholz vergleichen Psychotherapie mit einer Liebeserfahrung, deren
„Einheit stiftender Kern“ darin besteht, „dass der Liebende zum Geliebten wird.
Aus dieser Einheit gehen beide als andere hervor. Die Beschränkung des Selbst
auf das Individuum wird hier aufgehoben. In der Gegenübertragung kann das als
Ver-Anderung erlebt werden: Das eigene Selbstgefühl ver-andert sich nach den
unbewussten Vorgaben des anderen“ (interaktives Feld). So strebt eine
„Zwei-Personen-Psychologie“ keine Autonomie an, sondern „Souveränität in Form
der Anerkennung von wechselseitiger praktischer Abhängigkeit“. Sie überwindet
die „ego-zentrische Perspektive der Triebtheorie, die den anderen Menschen als
Objekt der Triebbefriedigung sieht“. Sie interessiert sich –
wie Freud in seiner therapeutischen Praxis auch schon –
für die „Gestalt der Oberfläche, in der das Unbewusste präsent wird“, „sich
präsentiert“. Psychoanalytische Therapie soll den Patienten „auf Augenhöhe mit
seinen unbewussten Strebungen“ bringen, sodass er sich von seinen unbewussten
Konflikten lösen und von ihnen frei werden kann. „Diese Freiheit zur
Entscheidung ist das Beste, was in einer Therapie erreicht werden kann. Der Weg
dorthin ist von therapeutischer Resonanz begeleitet.“ Alles in allem ein
gelungenes Buch mit anschaulichen Fallbeispielen und wichtigen Implikationen
für die psychodynamische Praxis.