Buch zum Thema
B e w u s s t s e i n
Un b e w u s s t e s
Was
wissen wir?
Wie
können wir dieses Wissen nutzen?
Wer
oder was sind wir wirklich?
Praxisbezogene
Grundlagen und Antworten
nicht
nur für Psychotherapeut(inn)en
Inhalt des Buches
1. Informationsverarbeitung und Nervensystem2. Wachheit
3. Funktionales Verhalten
4. Exformation und Gestalt
5. Aufmerksamkeit
6. Aufmerksamkeitssteuerung
7. Synchronisierung, Zeitfenster und perzeptuelle Bindung
8. Interaktion, Lernen und die Rolle der Spiegelneuronen
9. Tiefe der Informationsverarbeitung
10. Bindung
11. Repräsentation und Gedächtnis
12. Erinnern, Kontext und emotionales Gedächtnis
13. Affektive Bewertung
14. Konsistenz, Kongruenz und Kohärenz
15. Proto-Selbst, Kernbewusstsein und Ich-Mitte
16. Die Grenze zwischen tierischem und menschlichem Bewusstsein
17. Mimesis, Symbolbildung und Spracherwerb
18. Symbolbasierte Informationsverarbeitung
19. Sprache, narrative und virtuelle Welten
20. Symboltechniken und externes Gedächtnisfeld
21. Körperschema und Körper-Selbst
22. Differenzierung von Wahrnehmung und Empfindung
23. Die Entwicklung der Subjektivität und des phänomenalen Bewusstseins
24. Die Entwicklung des Selbst aus psychodynamischer Sicht
25. Das Selbst aus philosophischer Sicht
26. Meme und narratives Selbst
27. Das Ich und die Ich-Funktionen in Abgrenzung vom Selbst
Höhere Ich-Leistungen
28. Metarepräsentanzen und Mentalisierung
29. Selbstüberprüfung, langfristige Planung und Korrektur von Routinen
30. Metakognition, Selbstreflexion und Perspektivenwechsel
31. Willensfreiheit und Verantwortung
32. Schuld, Gewissen, Werte und Sinn
33. Selbsttranszendenz
34. Praktische Bedeutung der höheren Ich-Leistungen in der Psychotherapie
Praktische Konsequenzen aus den einzelnen Kapiteln
1. Informationsverarbeitung und Nervensystem
Bewusstsein in der Form, wie wir es als Menschen kennen, ist auf unser Nervensystem und unser hochgradig komplexes Organ „Gehirn“ sowie auf dessen sensorischen Input sowohl aus der Außenwelt als auch aus dem eigenen Organismus angewiesen. Aber alles, was wir über das Gehirn, das Nervensystem und die Sinnesorgane wissen, erklärt nicht hinreichend, warum wir so denken, erleben und agieren, wie wir es tun. Die mit dem Bewusstsein befassten Wissenschaften können zwar erklären, wie Bewusstsein möglich ist, nicht aber, warum wir es in der uns so vertrauten Weise haben. Es besteht eine Erklärungslücke („explanatory gap)“, welche die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens deutlich macht. Wenngleich wir viel Wissen angesammelt haben und wenngleich wir das Bewusstseinsphänomen mit großem Aufwand weitererforschen und unermüdlich alles besser zu erklären trachten, drängt sich der Verdacht auf, dass wir das, was uns vielleicht am meisten interessiert, zum Beispiel unser subjektives Erleben oder wer wir sind, niemals vollständig verstehen können.2. Wachheit
Bewusstsein muss nicht immer etwas Kompliziertes sein. Wir Mediziner haben in der Praxis in der Regel keine Zeit für tief greifende Erörterungen über das Wesen des Bewusstseins. Wir arbeiten mit einem recht einfachen Modell von Bewusstseinsfunktionen, das uns gute Dienste leistet: Für uns ist ein Patient bewusstseinsklar, wenn er wach, im Gespräch mit uns aufmerksam, uns körperlich zugewandt, im spürbaren emotionalen Kontakt (Rapport) mit uns ist; wenn er orientiert ist über den Ort, an dem er sich aktuell befindet, über das aktuelle Datum und die Uhrzeit, zu der das Gespräch stattfindet, und über die Personen, mit denen er aktuell zu tun hat. Diese Bewusstseinsfunktionen können zum Beispiel bei hirnorganischen Erkrankungen wie bei der Demenz, die leider häufig bei alten Menschen vorkommt, beeinträchtigt sein (was sich zum Beispiel in Schläfrigkeit, Kontaktverlust, Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit zeigt) und mit weiteren Symptomen in weiteren, unten noch zu besprechenden Aspekten des Bewusstseins einhergehen (zum Beispiel mit verminderter Wahrnehmung, verworrenem Denken, Halluzinationen, Wahnbildung, Störung des Kurzzeitgedächtnisses, unruhiger Getriebenheit sowie depressiver Verstimmung oder Aggressivität).3. Funktionales Verhalten
Für mich als Arzt und Psychotherapeut ist der Epiphänomenalismus erkenntniskritisch zwar reizvoll, aber praktisch nicht akzeptabel. Selbst wenn ich gezwungen wäre, dem Epiphänomenalismus theoretisch zuzustimmen (was ich nicht tue), würde ich diese Einsicht in meiner Praxis für mich behalten, denn der Epiphänomenalismus ist – wie zum Beispiel auch die Positionen des Solipsismus oder Nihilismus – kein geeignetes Modell, um kranke Menschen zu trösten, zu ermutigen und zu befähigen. Als Arzt und Psychotherapeut traue ich unserem Bewusstsein – bei all seinen unbestreitbaren Unzulänglichkeiten – etwas zu. So betrachte ich nicht nur das primäre biologische Bewusstsein, sondern vor allem auch das höhere kulturelle (uns sozial antrainierte) Bewusstsein als eine Funktion mit weitgehenden Auswirkungen auf die Funktionalität und mitunter auch auf die Dysfunktionalität unseres (sozialen) Verhaltens. Wenn wir als Einzelne, Familien oder Nationen verstehen, welche jeweiligen (uns häufig erst einmal gar nicht bewussten) spezifischen kulturellen Einflüsse die jeweiligen Eigenheiten unserer eigenen höheren Bewusstseinsfunktionen geformt haben und wie sich diese uns eigene spezifische kulturelle Geformtheit auf unser konkretes Verhalten als Einzelne oder Kollektiv auswirkt, dann leuchtet am Horizont unserer Gewohnheiten und fest gefügten Strukturen ein Licht auf: Wenn wir durch Kultur geformt wurden und unvermeidlich ständig weiter geformt und vielleicht sogar deformiert werden, dann können wir uns als Einzelne oder als Kollektiv durch aktive Gestaltung unserer eigenen Kultur und/oder durch ernsthafte Begegnung mit anderen Kulturen selbst neu formen und reformieren.
4. Exformation und Gestalt
Es ist nicht die
biologische Aufgabe unserer Sinnesorgane und
unseres Gehirns, die Objekte und Ereignisse in der Außenwelt
möglichst naturgetreu abzubilden, wie wir das zum Beispiel von einer Foto- oder
Filmkamera erwarten. Unser Gehirn erzeugt vielmehr Wirklichkeitsillusionen, die in den Routinesituationen des
Alltags höchst
nützlich sind und deren praktischer Wert vor allem in der Fülle von Information besteht, die sie nicht enthalten. Die drastischen
Wirklichkeitsverkürzungen, die im Alltag von
unschätzbarem Wert sind, können allerdings in neuen Situationen oder
Problemstellungen, in denen unsere bisherigen Wahrnehmungsroutinen, Denkmodelle und gewohnheitsmäßigen
Verhaltensmuster an ihre Grenzen stoßen,
zum Hindernis für adäquate Lösungen und Bewältigungen werden. Denn unsere
Wirklichkeitsillusionen werden
von uns subjektiv zutiefst als objektive Wirklichkeit erlebt.
Das Problem besteht nicht nur darin, dass unsere Wirklichkeitsmodelle irgendwann versagen, weil sie sich
unvermeidlicherweise in unserer sich ständig verändernden Welt überlebt haben.
Das Problem besteht noch mehr darin, dass wir uns der hochgradigen Exformation und
Datenreduktion, die unseren Wirklichkeitsmodellen zugrunde
liegen, in der Regel nicht bewusst sind. Wir neigen dazu, unsere
Wirklichkeitsillusionen als
die ganze Wirklichkeit anzusehen und sie erbittert gegen jene Erfahrungen zu
verteidigen, die mit unseren hochgradig reduktionistischen Wirklichkeitsmodellen nicht
kompatibel sind, insbesondere dann, wenn unbewusste Faktoren uns an
diese Illusionen binden.
Der Preis ist hoch
und besteht zum Beispiel in wiederholtem Scheitern und anhaltendem Leiden. Es gibt also in unserer schnelllebigen Zeit
zwangsläufig immer wieder Situationen, in denen wir – idealerweise mit Hilfe
von außen – unsere Illusionen hinterfragen, exformierte Kontextinformationen bewusst
machen und neue Wirklichmodelle generieren müssen. Glücklicherweise hält unser
menschliches Bewusstsein ab einer bestimmten Entwicklungsstufe die erstaunliche
Fähigkeit bereit, an den eigenen Wahrnehmungen und
Überzeugungen zu zweifeln, sowie die Fähigkeit, gedanklich eine Metaposition einzunehmen und sich selbst und das eigene
Erleben und Denken gleichsam von außen, wie von der Warte eines unbeteiligten
Dritten aus, zu betrachten und gegebenenfalls in Frage zu stellen. Wir werden
im Kapitel 29 über Metakognition, Selbstreflexion und
Perspektivenwechsel auf
diese wichtige Fähigkeit zurückkommen.
Zusätzlich zur bereits
erwähnten Wirklichkeitsillusion erzeugt unser Bewusstsein eine ebenso
nützliche Benutzerillusion: Wir glauben, dass wir frei entscheiden
können, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Tatsächlich unterliegen wir jedoch
auch mit unserer Aufmerksamkeitssteuerung soziokulturellen
Determinanten, die uns in der Regel nicht bewusst sind.
Dadurch dass wir unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsmäßig und kulturell gesteuert
immer wieder denselben Dingen oder Denkinhalten zuwenden, erfahren wir auch die
Wirklichkeit in der
immer wieder gleichen Weise. Wenn wir etwas erleben wollen, was wir noch nicht
erlebt haben, wenn wir unsere Gewohnheiten und
unser Bewusstsein verändern wollen, dann müssen wir unsere habituelle
Aufmerksamkeitsausrichtung unter
die Lupe nehmen und eine veränderte Aufmerksamkeitsfokussierung (zum
Beispiel in der Meditation) trainieren. Das gelingt uns am ehesten mit
der Unterstützung anderer.
Die oben angesprochene Benutzerillusion beinhaltet, dass wir den (uns in der Erziehung antrainierten) subjektiven Eindruck haben, als
gäbe es in uns ein personales Entscheidungszentrum, möglicherweise sogar mit einer
präzisen Lokalisierung, das unsere Aufmerksamkeit willentlich steuert. Tatsächlich aber scheint
es so zu sein, dass sich die vielen über unser Gehirn verteilten autonomen Spezialeinheiten im Sinne
einer Systemwirkung selbst organisieren. Das, was wir als bewusste und
willentliche Aufmerksamkeitsausrichtung erleben, ist das Ergebnis einer ausreichend
intensiven neuronalen Kooperation verschiedener Module unter dem Einfluss von (überwiegend
soziokulturellen) Umfeldfaktoren. Dabei gibt es keineswegs eine übergeordnete
Instanz im Gehirn, welche den Modulen die Kooperation befehlen würde.
7. Synchronisierung,
Zeitfenster und perzeptuelle Bindung
Wir erleben in der Regel die Vorgänge in uns selbst und das Geschehen um
uns herum als eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger kohärenten und überschaubaren Zuständen und Ereignissen,
die aus der Vergangenheit kommen und
sich über die Gegenwart in die Zukunft fortsetzen. Es sieht so aus,
als würde diese übersichtlich und zeitlich gerichtet erscheinende Struktur
unseres Erlebens dadurch möglich, dass unser Gehirn routinemäßig ständig neue Zeitfenster anlegt. Innerhalb
dieser Zeitfenster kann sich die (vor allem im Wachzustand) nicht abreißende Flut neuronaler
Elementarereignisse zu geordneten raumzeitlichen Strukturen verdichten.
Je nach zeitlicher Ausdehnung dieser Fenster und Verfügbarkeit kultureller
Kommunikations- und Memofunktionen können unterschiedliche
Stufen bewusster Erfahrung erreicht werden, zum Beispiel nur einzelne umgrenzte
Perzepte oder komplexe Zustände bis hin zu ganzen
Ereignisketten einschließlich ihrer Kausalbeziehungen. Das bedeutet aber auch,
dass unsere (zumindest komplexeren) bewussten Erfahrungen konstruierte Benutzerillusionen sind, welche
aus dem Zusammenwirken von Organismus und sozialer Umwelt beziehungsweise Gehirn und Kultur resultieren. Bernard
Baars sieht die Konstruktionen unseres Wachbewusstseins als „eine
sehr gute Näherung der wirklichen Welt“ an, die weit zutreffender ist als der
unbearbeitete Input. Zusätzlich haben wir dank der Sprache die
Möglichkeit, unsere Wirklichkeitsversion im Austausch mit anderen Menschen zu überprüfen.
8. Interaktion, Lernen und die Rolle der Spiegelneuronen
Im Kapitel über Interaktion und Lernen sind die Unbewusstheit und
Unabsichtlichkeit impliziter und sozial imitierender Lernvorgänge
deutlich geworden. Ohne besondere Anstrengung lernen wir sehr wichtige Dinge,
die uns befähigen, in dem soziokulturellen Umfeld, in dem wir groß geworden
sind, zurechtzukommen. Unser Gehirn ist offensichtlich so konstruiert, dass wir von
frühester Kindheit an geradezu gezwungen
sind, unsere soziale Umwelt zu imitieren; die Spiegelneuronen springen automatisch an, ob wir nun wollen
oder nicht. Derartige Mechanismen erleichtern uns zwar das Lernen, führen aber auch
zu einer Tendenz, gegenüber den Ergebnissen unseres impliziten Lernens, zum Beispiel gegenüber
unseren nachahmend erworbenen Vorlieben, Abneigungen, Gewohnheiten, Überzeugungen und
Motivationen, allzu unkritisch zu sein.
Das implizit Gelernte erscheint uns so selbstverständlich, dass wir oft selbst
dann noch an unseren Glaubenssätzen, Denk- und Verhaltensmustern festhalten, wenn sie sich schon lange nicht
mehr als geeignet erweisen, wichtige aktuelle Lebensanforderungen zu
bewältigen. Nicht selten werden Menschen oder ganze Systeme hierdurch krank. Aufgabe
von Psychotherapie, Beratung oder Coaching ist
es dann, dysfunktionale Denk-, Verhaltens-, Bindungs- und Beziehungsmuster sowie
unbewusste Motivationen, die diesen Mustern zugrunde liegen, zu erkennen
und zu verändern.
Menschenkinder sind
wie keine andere Spezies durch das soziokulturelle Umfeld, in dem sie aufwachsen, formbar. Erziehung und
Kultur programmieren dem lange total abhängigen Kind
in einem langwierigen Prozess ein, was es zu tun, wahrzunehmen, zu denken,
fühlen und zu wollen hat. Unser individuelles Bewusstsein ist folglich von
Natur aus nicht einfach da, sondern es wurde bei jedem von uns mit einem großen
kollektiven Aufwand hergestellt und wird auch im Erwachsenenleben von der
Kultur, in der wir leben, immer weiter ausgeformt und abgeschliffen. Wir sind
folglich hochgradig manipulierbar, im Positiven wie im Negativen. Allerdings
ist das Ergebnis der soziokulturellen Programmierung, Formung und Manipulation – anders als bei
intelligenten Maschinen – im Einzelnen nie berechenbar oder voraussagbar. Das
Bewusstsein von Individuen oder
Kollektiven entfaltet eine Eigengesetzlichkeit, eine gewisse Unabhängigkeit von
seinen eigenen Ausgangs- und Entstehungsbedingungen. Diese Unabhängigkeit kann
so weit gehen, dass wir unser eigenes Bewusstsein und die Faktoren, die es
hervorgebracht haben, hinterfragen und unsere Bewusstseinsentwicklung –
wenigstens ansatzweise – in die eigene Hand nehmen.
11. Repräsentation und Gedächtnis
Das Kapitel „Repräsentation
und Gedächtnis“ macht erneut deutlich, wie stark wir in einer biologisch und
kulturell konstruierten Wirklichkeitsillusion leben.
Wenn wir – vermeintlich hier und jetzt – in die Welt sehen, sehen wir vor allem
etwas aus unserer Vergangenheit und unsere
darauf basierenden Erwartungen. Das meiste, was unsere Sinne innerhalb der
Jetztzeitfenster erfassen, wird ohnehin von unserer bewussten
Wahrnehmung und
von unseren dauerhafteren Gedächtnisspeichern ferngehalten. Wenn wir etwas
wirklich Neues erfahren und lernen wollen, sind wir auf die Hilfe anderer
angewiesen.
In diesem Kapitel über die Kontextabhängigkeit unserer Erinnerungen wurde deutlich, dass Erinnern eine schöpferische Tätigkeit ist, mit der
wir die Realität rekonstruieren und nicht einfach aus einer digitalen
Datenbank hervorholen. Unsere Gedächtnisleistungen
scheinen weniger verlässlich, als wir gemeinhin glauben. Viele, vor allem
deklarative Gedächtnisinhalte verändern sich mit der Zeit, sind zeitweise
nicht mehr abrufbar oder gehen gänzlich verloren. Daher bedienen wir uns gerne der Wiederholung in
Form von Reimen, Alliterationen, Rhythmen und leicht zu merkenden Grundsätzen, um
die Zuverlässigkeit unseres Gedächtnisses zu
verbessern. In unserem (von der Amygdala abhängigen) emotionalen
Gedächtnis können sich hingegen alte
Negativerfahrungen hartnäckig erhalten und irrationale, im aktuellen Kontext
völlig unangemessene und dysfunktionale Ängste hervorrufen. In solchen Fällen dürfen wir
nicht „auf unsere Amygdala hören“, wenn sie uns auch in
vielen anderen Kontexten durchaus gute Dienste erweist.
13. Affektive Bewertung
Affekte und
Emotionen spielen für unser bewusstes Erleben eine
hervorragende Rolle. Denn affektive Bewertungsprozesse entscheiden darüber, wem oder was wir
Aufmerksamkeit schenken, was wir wahrnehmen und erinnern. Unsere
Affekte und Emotionen haben eine enorme Auswirkung auf unser Leben, die meist
positiv, mitunter aber auch schädlich ist. Trotz der „Durchschlagskraft“ von
Affekten und
Emotionen sind wir ihnen nicht machtlos ausgeliefert, sondern können unsere
emotionalen Reaktionsmuster durch
tapferes Verhaltenstraining und Arbeit an unseren oft nicht bewussten
kognitiven Bewertungsroutinen verändern. Dazu müssen allerdings die
übergeordneten Motivationen und
Ziele klar
werden. Dazu benötigen wir die Unterstützung anderer.
Praktisch bedeutsam
scheint mir auch das dargestellte Zusammenwirken von subcorticalen und
corticalen Bewertungsprozessen zu
sein. Normalerweise interagieren die beiden Prozessrichtungen (bottom-up und
top-down) miteinander und ermöglichen so die differenzierte Bewertung des
jeweiligen aktuellen Kontexts und der Situation. Idealerweise hält sich die
angeborene biologische subcorticale Spontaneität unseres Fühlens und Handelns
mit der kulturell antrainierten neocorticalen Reflektiertheit und
Kontrolliertheit die Waage, und es eröffnet sich ein breites Spektrum flexibler
Alternativen des Verhaltens und Selbstausdrucks. Das beste Training für diese
erstrebenswerte Balance ist die aktive Teilnahme an verschiedenen sozialen
Gemeinschaften (Familie, Firma, Gemeinde, Vereine, Parteien
und so weiter) oder – falls man sich in diesen natürlichen sozialen Kontexten schwertut
– die Teilnahme an den vielfältigen (professionellen therapeutischen) Angeboten
zur Selbsterfahrung und/oder
zum Einüben sozialer, emotionaler und kommunikativer Kompetenz in der Gruppe.
14. Konsistenz, Kongruenz und Kohärenz
Unsere Sinnessysteme, unser Gehirn und
unsere psychischen Funktionen zeigen die Tendenz, ein möglichst hohes Maß an
Kongruenz von
unseren Bedürfnissen und
Erwartungen mit
unseren Wahrnehmungen sowie ein
möglichst hohes Maß an Konsistenz und
Kohärenz unseres Erlebens sicherzustellen. Inkongruenz, Inkonsistenz und
Inkohärenz erleben
wir subjektiv oft als seelisches Leiden. Kongruenz, Konsistenz und Kohärenz gehen
hingegen mit positiven Emotionen einher
oder werden von uns sogar als Glückszustand erfahren.
Das bewusste Streben der meisten Menschen dürfte auf Kongruenz, Konsistenz und
Kohärenz zielen; dieses Anliegen wird auch von den meisten Psychotherapiemethoden und
anderen Hilfsangeboten unterstützt. Wenn es uns aber trotz aller Anstrengungen
nicht gelingt, die Inkonsistenzspannung, von der Grawe spricht, loszuwerden, dann
erleben wir das in der Regel als Unglück. Dabei vergessen wir jedoch, dass ein hohes
Maß an Inkonsistenz uns Menschen in unserer Doppelbestimmung als Natur- und
Kulturwesen wesenseigen ist. Inkonsistenzspannung kann
sich kulturell äußerst fruchtbar auswirken, ist sie doch eine Quelle für unser
schöpferisches Potenzial, für unser Engagement und für
unsere höheren Bewusstseinsleistungen. Ein gewisses Maß an Inkonsistenzspannung
dürfte also soziokulturell durchaus „gewollt“ sein (vgl. auch Kapitel 31 über
Willensfreiheit und
Verantwortung).
Es kann in unserem
Leben folglich nicht ernsthaft darum gehen, die uns Menschen schicksalhaft
auferlegte Inkonsistenzspannung einfach nur loszuwerden, zum Beispiel indem
wir im Mainstream mitschwimmen, uns jedem Trend und jeder
Modeströmung anpassen, Drogen und
Alkohol konsumieren oder – wie es heute zunehmend geschieht
– uns mit Internetspielen, Pornografie und anderen Surrogaten betäuben.
Fragwürdig scheinen mir auch die vielen einfachen Rezepte aus dem breiten
Angebot von Büchern, Workshops und Organisationen, die mit einem wie auch immer
gearteten Glücksversprechen werben. Biologisch und kulturell gesehen sind wir
nicht auf dieser Welt, um ständig glücklich zu sein, sondern, wie ich glaube,
um kollektiv zu überleben. Anleitungen zum persönlichen Glück scheinen mir daher
auf längere Sicht eher als Anleitungen zum Unglücklichsein geeignet. Die
Herausforderung unseres Daseins besteht meines Erachtens darin, die
unausweichliche menschliche Inkonsistenzspannung, das heißt konkret: unser
Leiden, in ein Konsistenz- und Kohärenzerleben höherer Ordnung zu
transformieren. Unser Bewusstsein
befähigt uns auf seinen fortgeschrittenen Entwicklungsstufen dazu, uns von
unseren enkulturierten Selbstkonzepten sowie unseren
habituellen Denkmustern nach und nach wieder zu distanzieren und unser Erleben
und Wollen, auch unser Mühen und Leiden in übergeordnete Sinnzusammenhänge einzubetten.
15. Proto-Selbst, Kernbewusstsein und Ich-Mitte
Die höheren menschlichen Bewusstseinsebenen sind zwar stark an Sprache und – wie wir unten noch sehen werden – an Metakognitionen (vgl. Kapitel 29) gebunden, unser Bewusstsein ist jedoch entwicklungsgeschichtlich, von seinem biologischen Ursprung her, ein sinnliches und körpernahes Phänomen. Wenn wir unser Bewusstsein verändern und weiterentwickeln wollen, wird uns das am besten gelingen, wenn wir an ihm nicht nur mittels intellektueller Einsicht arbeiten, sondern auch unseren Körper einbeziehen. Eine Reihe moderner Psychotherapieschulen sowie geistlicher und ganzheitsmedizinischer Traditionen bedienen sich eines breiten Spektrums körperbezogener Übungen, zum Beispiel Atem-, Meditations- und Massagetechniken, Selbstempfindungs- und Bewegungsübungen, Tanzen, Singen, Trommeln und Fasten. Auch der therapeutische und kultische Einsatz von Drogen ist hier zu erwähnen.16. Die Grenze zwischen tierischem und menschlichem Bewusstsein
Dieses Kapitel unterstreicht die Sonderstellung des soziokulturell vermittelten, symbolbasierten menschlichen Bewusstseins innerhalb des Tierreichs. Es wird zugleich aber auch deutlich, wie weit das biologische Bewusstsein reicht, wie sehr wir Menschen in unserem unmittelbaren Empfinden und Erleben wahrscheinlich anderen höheren und sozial lebenden Tieren, vor allem den Menschenaffen, nahestehen. Für Donald sind wir „tief drinnen […] nach wie vor Primaten“.[1] Viele Haustierhalter fühlen intuitiv diese Nähe und Verwandtschaft. Umso mehr erstaunt die verbreitete emotionale Indifferenz gegenüber der Massentierhaltung und der entseelten industriellen Fleischproduktion. Es findet eine weitgehende kollektive Verleugnung des Leidens zahlloser Tiere statt, deren jeweiliges Einzelschicksal nach einer mit allen technischen Mitteln forcierten Aufzucht in fließbandmäßig organisierten Tötungsfabriken ein ökonomisch optimiertes Ende findet.
17. Mimesis, Symbolbildung und
Spracherwerb
Mit der zuerst noch ungerichteten
motorischen und phonetischen Nachahmung des
Wahrgenommenen und der später zunehmend stellvertretenden Verwendung von
Lauten, Objekten und bildhaften Darstellungen wird es dem Menschenkind möglich,
eine Art von Verdoppelung der von ihm wahrgenommenen Welt vorzunehmen. Das Kleinkind
schafft sich innerhalb seines motorischen Wirkungsfeldes seine eigene
miniaturisierte Zweitwelt, die es nach Belieben anfassen (begreifen),
manipulieren und lautbildend begleiten kann. Diese Zweitwelt, die schon erste
Merkmale von Distanziertheit und Unabhängigkeit von
den äußeren Objekten und Ereignissen aufweist, bereitet den für die Bewusstseinsleistungen
des Menschen so überaus bedeutsamen inneren Raum vor, in
dem die Außenwelt symbolisch repräsentiert ist. In diesem inneren Raum finden
jene symbolbasierten mentalen Operationen statt, ohne die es dem
Menschengeschlecht nie gelungen wäre, die äußere Welt zu verändern und eine derart
atemberaubende Kulturgeschichte in
Gang zu setzen.
In der
psychodynamischen Psychotherapie spielt
der mentale Binnenraum eine große Rolle. So ist es ein wichtiges Kriterium bei der
Einschätzung des Strukturniveaus[2] eines
Patienten, in welchem Maße ein seelischer Binnenraum entwickelt ist. In diesem innerseelischen Raum
können zum Beispiel die Risiken und Konsequenzen des eigenen Handelns sowie die
Reaktionen anderer vorausgesehen, Konflikte innen
statt außen ausgetragen, innere Dialoge geführt und Wunschvorstellungen partiell befriedigt werden.
18. Symbolbasierte Informationsverarbeitung
Wenn wir Donalds Sichtweise des menschlichen Geists als Hybridprodukt aus Biologie und Kultur, in dem sich analoge und digital-symbolbasierte Informationsverarbeitung vereinen, als zutreffend anerkennen, dann ergeben sich weitreichende Schlussfolgerungen für unser Verhältnis zu unserem eigenen Bewusstsein: Wenn wir denken, denken wir nicht unsere eigenen Gedanken, sondern die Gedanken, die zu denken wir von unserem soziokulturellen Hintergrund beauftragt oder zumindest berechtigt sind. Wenn wir sagen (oder singen): „Die Gedanken sind frei“, dann stimmt das einfach nicht. Pointiert könnte man auch sagen: Wir denken nicht, sondern wir werden gedacht. Das Gleiche lässt sich von unserem Wollen sagen: Wenn wir etwas wollen, wollen wir nicht unseren eigenen Willen, sondern den Willen, den zu wollen wir von unserem soziokulturellen Hintergrund beauftragt oder zumindest berechtigt sind. Wenn wir uns gegen eine solche kontraintuitive Sichtweise sträuben, dann spricht unsere Aversion nicht etwa gegen diese Sichtweise, sondern belegt vielleicht nur, wie tief und erfolgreich unsere Kultur die Benutzerillusion des freien Denkens und Wollens in uns implantiert hat.
Wozu ist die
Benutzerillusion gut? Welche
möglichen lebenspraktischen Konsequenzen sind aus der Einsicht in diese
Illusion zu
ziehen? Gibt es vielleicht doch irgendwo eine Sphäre, in der unser Geist
autonom und unser Wille frei ist? Donald hat
bereits ein hoffnungsvolles Fenster geöffnet, wenn er diese Sphäre in der urwüchsigen
analogen Schicht unseres Geistes, die sich aus unmittelbaren Eindrücken speist
und nicht mit Symbolen operiert, sucht. Sollten wir ausgerechnet mit
Hilfe unserer oft geschmähten oder gar geleugneten Tiernatur unsere
individuelle Autonomie und
Freiheit retten
können?
19. Sprache, narrative und virtuelle Welten
Offensichtlich sehnen sich Menschen kulturübergreifend nach plausiblen Geschichten, Narrativen über den Ursprung und den Wesenskern dessen, was uns scheinbar als Welt umgibt und wer oder was wir selbst in Bezug auf diese Welt sind. An den Narrativen, an den Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen, tritt ein Paradoxon des menschlichen Bewusstseins besonders deutlich hervor: Eine mitteilbare, das heißt mit anderen teilbare und sich damit erst objektivierende Vorstellung von dem, was in jedem Einzelnen von uns und um uns herum wirklich sein könnte, gewinnen wir ausgerechnet durch Abstraktion („abstrahere“, lat. = weg/abziehen, entfernen, trennen), das heißt dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit von dem sensorischen Input, der aus unseren Sinnesorganen kommt, abziehen und dass wir unsere zentralnervöse Informationsverarbeitung zu einem großen Teil von diesem sensorischen Input abschirmen. Wir Menschen haben auf diese Weise eine künstliche, das heißt von der Natur, Physik und Biologie abgehobene (nichtontische, damit aber nicht notwendigerweise widernatürliche) Welt gemeinschaftstauglicher (Sprach-)Bilder erschaffen. Die Bilder dienen uns als Chiffren für Erfahrungsbereiche, die anders nicht mitteilbar sind.
Das Erstaunliche an dieser virtuellen, künstlichen, symbol- und
narrativbasierten Gemeinschaftswelt ist, dass sie uns Menschen zunehmend aus
dem naturgesetzlichen Determinismus herausgelöst hat. Karl Popper fasste unsere virtuellen
Gemeinschaftswirklichkeiten in dem Begriff „Welt 3“ zusammen. Wir können mit ihrer Hilfe zu dem, was
wir als Einzelne oder als Gemeinschaft wahrnehmen, erfahren
und erleben, oft mehrere Alternativnarrative konstruieren. Insbesondere moderne
Wissenschaft stützt sich auf Alternativnarrative (Hypothesen), deren Besonderheit darin besteht, dass sie sich
der systematischen empirischen Überprüfung stellen. Alternativnarrative, seien sie nun
wissenschaftlich, mythisch oder religiös begründet, erlauben unterschiedliche
Bewertungen dessen, was wir wahrnehmen, erfahren und erleben. Wir benötigen
konkurrierende Narrative, um alternative Verhaltensentwürfe entwerfen, ihre
möglichen Konsequenzen voraussehen und nachträglich eine Bewertung vornehmen zu können, ob diese Konsequenzen wirklich
wünschenswert waren. Eine solche Bewertung wird wiederum unser Verhalten
beeinflussen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass unsere virtuellen
narrativen Wirklichkeiten (Welt 3) tief in die physikalische Welt (die sogenannte
objektive Welt, Poppers Welt 1) hinein-w i r k e n. Sie sind im wörtlichen Sinne w i r k-lich.
20. Symboltechniken und externes Gedächtnisfeld
Wir selbst sind es, die – gewollt oder ungewollt – Donalds externes Gedächtnisfeld beziehungsweise Poppers „Welt 3“ gestalten und aktualisieren, zum Beispiel wenn wir etwas Schriftliches verfassen oder etwas Künstliches herstellen. Es macht selbstverständlich einen Unterschied, ob wir gedankenlos etwas auf einen Zettel kritzeln, ein Formular ausfüllen, Falschgeld drucken, Waffen produzieren, einen Liebesbrief schreiben, ein Haus, eine Fabrik, eine Schule, eine Raumstation oder eine Kathedrale planen und erbauen, Kunstwerke erschaffen, ein Gesetz erlassen, ein philosophisches System entwerfen, ein Evangelium schreiben oder eine wissenschaftliche Abhandlung verfassen. In jedem dieser Fälle wirken wir – sei es in einem verschwindend geringen oder in einem die Welt verändernden Maßstab – an der gemeinsamen kulturellen Matrix mit, in der wir und unsere Mitmenschen leben und die Generationen nach uns leben werden. Wir wirken damit auch mit an dem durch unsere Kultur geöffneten und begrenzten Feld von Möglichkeiten, welches vom kollektiven Paradies auf Erden bis zum gemeinsamen Untergang in einer atomaren oder ökologischen Katastrophe reicht. Wir sind in wesentlichen Teilen unserer individuellen Persönlichkeiten von unserer Kultur geschaffen worden, und gemeinsam setzen wir das Werk unserer Vorfahren fort, die diese Kultur erschaffen haben.
Der „große Bruder namens Kultur“, der laut Donald „schon früh in uns eindringt“ und „uns in der
Hand hat,“ verliert etwas von seiner erschreckenden Übermacht, sobald wir ihm
nicht mehr alleine und vereinzelt gegenüberstehen. Wenn wir unsere eigene Kultur
und alle anderen Kulturen als einen großen, Generationen übergreifenden Gemeinschaftsprozess begreifen
und unser jeweiliges eigenes individuelles Bewusstsein als Produkt, Teilhaber,
Nutznießer, Mitgestalter und Mitverantwortlicher eines solchen Prozesses
verstehen, kann das uns helfen, uns mit unserem ohnehin unausweichlichen
menschlichen Schicksal als Kulturwesen zu versöhnen.
21. Körperschema und Körper-Selbst
Die menschliche Selbstwerdung hängt nach dem, was ich gerade vorgestellt habe, ganz offensichtlich mit dem Körper als Ganzen, mit körperlichen Prozessen und körperlichen Interaktionen zusammen. Selbst unser bewusstes erwachsenes Welt- und Selbsterleben scheint von früh erworbenen körperlichen Reaktionsmustern, Gewohnheiten und Körperhaltungen beeinflusst zu sein. Aber ist denn nicht – so wird immer wieder gefragt – die menschliche Seele etwas vom Körper fundamental Verschiedenes?
Nach meiner ärztlichen Erfahrung sind Körper,
Selbsterleben und seelische Gesundheit eng miteinander verwoben.
Psychische Symptome hängen nicht selten mit gestörten Körperfunktionen zusammen,
zum Beispiel mit hormonellen Dysbalancen bei Schilddrüsenerkrankungen oder mit Schwankungen der
Hormonspiegel im Rahmen des weiblichen Monatszyklus. Psychische Symptome bessern
sich oft, wenn es Patient und Arzt gemeinsam gelingt, gestörte Körperfunktionen
zu verbessern, sei es durch Abschirmung gegen
schädliche Stoffe und Strahlungen, Entlastung und
Entgiftung des Organismus, zum Beispiel durch Darmreinigung, Trinken, Fasten,
Ernährungsumstellung und Rhythmisierung des
Tagesablaufs, durch Nahrungsergänzung mit Spurenelementen, durch Massagen, Physiotherapie, körperliches Training, Sport, Yoga, Atemtechniken, Dehnungsübungen, Wanderungen in der Natur, Klimaveränderung,
Umstimmungsreize (Kneipp, Sauna) oder andere Naturheilverfahren.
Manche Depressionen reagieren erstaunlich gut auf
eine Behandlung mit hellem Tageslicht oder auf therapeutischen Schlafentzug. Manchmal bessern sich seelische Symptome allein durch ein Absetzen
oder einen Wechsel des Kontrazeptivums. Bei schweren seelischen
Leidenszuständen scheint oft die Verabreichung von Psychopharmaka, die in den Gehirnstoffwechsel eingreifen, unumgänglich. Körperliche
Symptome bessern sich nicht selten schon dadurch, dass der Patient Vertrauen in ein therapeutisches
Hilfsangebote gewinnt. Noch besser ist, wenn es dem Patient mit Hilfe eines
Arztes oder Psychotherapeuten gelingt, (wieder) Vertrauen in die eigenen
Ressourcen und die eigene Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Auf diese Weise verringern
sich die schädlichen Auswirkungen von seelischen Belastungen, Konflikten,
Persönlichkeitsdefiziten und der allzu häufigen sozialen
und emotionalen Isolierung.
Diese sowohl somatopsychische als auch psychosomatische Betrachtungsweise von Krankheit
und Behandlung dürften viele meiner ärztlichen und psychotherapeutischen
Kolleginnen und Kollegen mit mir teilen. Die Körperpsychotherapie geht darüber noch hinaus: Ihre verschiedenen Schulen verstehen die
bei jedem einzelnen Patienten besondere Körperform, Körperhaltung und
Art sich zu bewegen, zu atmen, das Sinnessystem zu gebrauchen und Affekte auszudrücken, als Ergebnis einer langen
Geschichte von Kommunikationserfahrungen und Körper-Mikropraktiken, die der Patient in der Interaktion mit
seiner sozialen Umgebung von früh an erworben hat. Entsprechend liegt ein
Schwerpunkt der körperpsychotherapeutischen Behandlungstechnik in der Arbeit
mit der Körperselbstempfindung des Patienten
und an den körperlich-sinnlichen Aspekten, die sich im Hier und Jetzt der
Therapeut-Patient-Begegnung (oder auch in einer therapeutischen Gruppensituation)
zeigen: Körperhaltung, Mimik, Gestik, Muskeltonus, Bewegungsabläufe, Atmung, Art des Augenkontakts und Zuhörens sowie
Ton der Stimme. Auf diese Weise versuchen Körperpsychotherapeuten, Zugang auch zu
jenen nicht bewussten Faktoren zu finden,
welche für die aktuellen Krankheitssymptome des
Patienten eine wichtige Rolle spielen, die sich aber – weil ihre Ursprünge in
die frühen präsymbolischen Lebensphasen zurückreichen – sprachlich nicht
fassen lassen.
22. Differenzierung von Wahrnehmung und Empfindung
Die Unterscheidung von Wahrnehmung, reiner
Sinnesempfindung und virtueller Empfindung dient vor allem als Grundlage für die nun
folgenden Kapitel, in denen es um die Entwicklung der Subjektivität und des Bewusstseins vom eigenen Selbst geht. Für diese Entwicklung könnten insbesondere
virtuelle Empfindungen, die das Gehirn täuschend echt auch unabhängig
von Sinnesdaten-Inputs erzeugen kann, eine wesentliche Rolle spielen.
23. Die Entwicklung der Subjektivität und des phänomenalen Bewusstseins
Wir legen heute viel
Wert auf unseren persönlichen Geschmack, auf unsere individuellen Neigungen,
Abneigungen und Befindlichkeiten. Ganze Industrien sind damit beschäftigt,
uns Anstrengungen zu ersparen, uns lustvolle Empfindungen zu
verschaffen und unser subjektives Wohlbefinden in jeder nur erdenklichen Weise zu
optimieren. Das uns antrainierte phänomenale Bewusstsein, die individuelle Qualitativität unserer Empfindungen und Gestimmtheiten scheinen vielfach zum Selbstzweck geworden zu
sein, was sich im Hedonismus unserer
heutigen Spaß-, Luxus-, Bequemlichkeits- und Egotripkultur zeigt.
Als Arzt und
Psychotherapeut kann ich mich tagtäglich davon überzeugen, dass die
verzweifelte Suche nach privatem Glück, nach Erfolg und Status, Unterhaltung, materiellem
Wohlstand, sinnlicher Stimulation und Ablenkung und die Vermeidung von Anstrengung
sowie die künstliche Abtötung von Unlust, Schmerz und
Angst zu
keiner (Er-)Lösung führt, sondern im Gegenteil das Leiden der
Menschen meist noch vermehrt, weil genau dieses vehemente Streben nach
subjektiven Glücksmomenten den Weg für eine echte Heilung des Einzelnen und der
Gesellschaft verstellt.
Was allzu häufig
verkannt wird, ist die soziokulturelle Dienstfunktion unseres subjektiven Empfindens
und Befindens. Die Kulturgeschichte hat phänomenales
Bewusstsein hervorgebracht,
damit wir uns so verhalten, wie es für die Erhaltung der Gemeinschaft und
Kultur, der wir angehören, vorteilhaft ist. Wir
sind versucht zu glauben, dass unser Bewusstsein etwas in uns ist, das wir
selbst erzeugen, und dass die qualitativen Zustände, die wir erleben, uns
selbst gehören. Wir glauben, dass unser Bewusstsein für uns persönlich da ist
und uns zu dienen hat. In dieser antrainierten egozentrischen Benutzerillusion liegt
ja gerade der Trick, der dafür sorgt, dass wir so wunderbar motiviert sind. In
Wirklichkeit aber haben unser subjektives Bewusstsein und unser vermeintlicher
Egoismus dem Kollektiv zu
dienen. Nur wenn wir uns dessen bewusst werden und uns selbst entschlossen in
den Dienst der Gemeinschaft und gegebenenfalls einer höheren Instanz stellen,
kann meines Erachtens unsere Seele heilen. Ich komme auf diesen Punkt zurück.
24. Die Entwicklung des Selbst aus psychodynamischer Sicht
So wie an vielen
vorangegangenen Stellen des Buches wurde auch in diesem Kapitel wieder
deutlich, wie sehr das, was wir sind oder zu sein glauben, was wir denken,
fühlen, wollen und tun, von den soziokulturellen Umgebungsbedingungen, unter
denen wir leben, abhängt. Es mag sogar scheinen, als wären wir durch genetische
Faktoren und
Umweltvariablen vollständig determiniert, als müsste unser Leben, als müsste die
Zukunft unserer ganzen Welt zwangsläufig in einer vorgezeichneten Weise
ablaufen. Wenn wir objektbeziehungs- und selbsttheoretisch über das
Gewordensein unseres Selbst und
unserer Persönlichkeit nachdenken, dann geschieht das nicht zuletzt
aus der Motivation heraus, dem Eindruck eines unausweichlichen
Determinismus etwas
entgegenzusetzen. Wenn wir verstehen, wie wir geworden sind, können wir
vielleicht unser zukünftiges Werden willentlich beeinflussen. Wir dürfen dann
hoffen, nicht mehr alle Muster, die wir implizit erlernt haben, laufend
unbewusst wiederholen zu müssen. Wir könnten uns
gegenseitig und auch unsere Kinder zu bewussteren Menschen mit vielleicht besseren
Aussichten auf ein erfülltes Leben erziehen.
Alle
psychotherapeutischen Methoden zielen letztendlich auf Veränderung und
Entwicklung. Doch bevor ein Patient sein Verhalten, insbesondere seine
Gewohnheiten, nachhaltig verändern kann, ist es notwendig,
dass er sich so, wie er augenblicklich ist, annehmen kann. Solange sich ein
Mensch selbst bekämpft, verurteilt und bestraft, wird es für ihn schwer sein,
dem Kreislauf der Wiederholung seiner
tief verankerten Muster zu entkommen. Das psychodynamische Verständnis für das
individuelle biografische Gewordensein des Patienten, vor allem für die
unverwechselbare Beschaffenheit seines Selbst, wird es sowohl dem Therapeuten als auch dem
Patienten erleichtern, die Persönlichkeit des
Patienten mit all ihren augenblicklichen Defiziten, aber auch mit ihren besonderen Leistungen (beispielsweise
mit widrigen Bedingungen in der Kindheit fertig
geworden zu sein) anzuerkennen und zu würdigen. Die freundliche, geduldige und
ausdauernd wertschätzende Haltung des Therapeuten wird mit
der Zeit, wenn das Selbst des Patienten nicht allzu stark beschädigt ist, eine
heilsame Wirkung entfalten und den Patienten trösten und
entängstigen. Sie wird ihn ermutigen, seine selbstschädigenden Gewohnheiten Schritt für Schritt zu verändern.
Psychotherapie macht
Mut zum Leben, zu notwendiger Veränderung, zu Wachstum und
Selbstentfaltung. Aber sie muss meines Erachtens noch etwas darüber
hinaus leisten: Ohne den Blick auf das Ende unseres Daseins, ohne die Frage
nach dem Sinn unseres Lebens und nach dem, was danach kommt,
greift Psychotherapie zu kurz. Sie darf nicht der Angst aller
Ängste ausweichen: der Todesangst, der Angst vor dem unvermeidlichen Verlust
all unserer lieb gewonnenen Bindungen und unseres
Selbst. Unsere Eltern, Erzieher, Lehrer und wir selbst haben so
viel Anstrengung und Zeit investiert, damit wir – bei aller Unzulänglichkeit –
so werden konnten, wie wir sind. Mit unserem Tod wird
diese mühselige Schöpfung, unser Selbst, unsere Persönlichkeit, scheinbar unwiderruflich vernichtet. Psychotherapie
muss bereit sein, sich dieser „conditio humana“ zu stellen, die Patienten und
Therapeuten gleichermaßen betrifft. Ich komme auf diesen Aspekt im Kapitel 33
zurück.
25. Das Selbst aus philosophischer Sicht
Dadurch, dass Menschen
in unserem Kulturkreis in der Regel über ein Selbstmodell im
Sinne Metzingers verfügen, ist eine Identifikation und
Empathie mit anderen
möglich. Erst mit der bewussten Erfahrung eigener Subjektivität lässt
sich auf die subjektive Welt anderer schließen, und es kann sich das Bedürfnis entwickeln,
mit dieser anderen Welt in Kontakt zu treten, etwas über diese Welt zu erfahren
und sich selbst dieser mitzuteilen. Ich
kann mich also, soweit es mir sprachlich möglich ist, mit anderen, zum Beispiel
mit meinen Patienten, über ihr Selbsterleben und ihren
subjektiven Weltbezug im Vergleich
zu meinem eigenen Selbsterleben und Weltbezug austauschen. Es hilft mir dabei,
mir immer wieder klarzumachen, dass andere – genau wie ich – aus einer
egozentrischen Perspektive auf sich selbst und auf die Welt schauen. Es hilft mir
zu wissen, dass andere im Alltag genauso wenig
wie ich gewahr sind, dass sie – genau
wie ich – „naiv“ durch ihre neurobiologischen Strukturen und Funktionen
hindurch auf sich selbst und die Welt schauen. Dass andere, wie ich, einer vom
enkulturierten Gehirn erzeugten Benutzerillusion unterliegen, welche die eigene vertraute
Selbst- und Weltsicht als die einzig zutreffende und selbstverständliche
Wirklichkeit erscheinen lässt. Insbesondere als
Psychotherapeut muss ich wissen, dass Menschen ein natürliches Bedürfnis haben,
für ihre eigene Selbst- und Weltsicht Bestätigung zu finden, und dass es
beunruhigend oder sogar beänstigend sein kann, wenn die eigene Wirklichkeit in
Frage gestellt wird. Ausgestattet mit diesem Bewusstsein wird es mir am ehesten
möglich sein, anderen Menschen möglichst unvoreingenommen, wertfrei und
geduldig zuzuhören und sie zu verstehen.
26. Meme und narratives Selbst
Da sich an der
biografischen Vergangenheit ohnehin
nichts mehr ändern lässt, geht es in der Psychotherapie vor allem
darum, dass Patienten ihre eigene Biografie in einem
neuen Licht sehen können. Wie aber lässt sich die lebensgeschichtliche Version,
die ein Patient sich selbst und anderen erzählt, von dysfunktionalen Überzeugungen und Bewertungen sowie vom
Wiederholungszwang der Vergangenheit befreien? Wie lässt sie sich
in eine Version transformieren, die den Patienten mit seinem Lebensschicksal
versöhnt und ihn zur Nutzung seiner vorhandenen Potenziale und
Entwicklungschancen befähigt?
Verena Kast zitiert
Wilhelm Genazino, der in seinem 1996 erschienenen Buch „Das
Licht brennt ein Loch in den Tag“ feststellt, dass sich Geschichten „durch das
Erzählen verändern, und dass sie sich auch etwas verändern, je nachdem, wem sie
erzählt werden“. Das „Nichtverstandene“ will erzählt werden. „Geschichten
machen unsere Identität aus […].
Die Zeitlichkeit unseres Daseins zeigt sich im Erzählen […]. Unsere erinnerten
Geschichten verändern sich durch die Erinnerung […]. Unsere Geschichten
verändern sich auch, je nachdem, wem wir sie erzählen.“
Kast betont: „Je emotionaler eine Situation
ist, um so öfter muss von dieser Situation […] immer wieder erzählt werden,
etwa von traumatischen Lebensereignissen
[…]. Erzählen kann man nur, wenn
jemand auch zuhört […]. Der Therapeut kann symbolisch geradezu als
großes Ohr dargestellt werden, und wir lernen, nicht nur das zu hören, was
gesagt wird, sondern auch das, was verschwiegen wird […]. Im Zuhören öffnet
sich ein Mensch der Welt des anderen, ist offen, ist angesprochen, lässt sich
bewegen vom Gehörten, lässt sich beeindrucken und beeinflussen. Im Zuhören
werden Grenzen zwischen dem sprechenden und dem zuhörenden Menschen
aufgehoben, taucht man in eine gemeinsame Welt ein […]. Die Gemeinsamkeit
zwischen Erzähler und Hörer kulminiert in einer Bewertungskonvergenz – man
lacht zum Beispiel an der richtigen Stelle […]. Im Zuhören entsteht eine
Zugehörigkeit […]. Zuhören heißt weiter auch, in Beziehung zu treten. Nicht
zuzuhören zeigt
ein Desinteresse an Beziehung, in einer Erzählsituation kommt es einem
Beziehungsabbruch gleich […]. Die Erzählsituation ermöglicht das
Nichtalleinsein […]. Letztlich geht es doch wohl darum, dass die
Lebensgeschichte als Ganze
so erzählt werden kann, dass sie akzeptabel ist. Sie wird also umerzählt, bis
man sie akzeptieren kann.“
Dasein, Zeit haben und zuhören (DAZZ) – egal, ob ein Patient, der Partner oder
ein Freund über Episoden aus seiner Lebensgeschichte oder
über aktuelle Beschwerden und Sorgen spricht – das sind wesentliche Qualitäten,
die leidende Menschen trösten, entlasten, entängstigen und
ermutigen. Im geduldigen, sich verfrühten Wertungen
und Ratschlägen enthaltenden Zuhören bringt der Zuhörer seine Anteilnahme und
Solidarität mit
dem Erzählenden zum Ausdruck. Wenn man anderen seelisch beistehen will, gibt es
oftmals gar nicht viel mehr zu tun als eben nur das: in einer Atmosphäre von
Zeitlosigkeit spürbar
da zu sein und zuzuhören. In den sozialen Bezügen unserer Leistungs-
und Unterhaltungsgesellschaft mangelt es allzu häufig genau daran: an Zeit
füreinander, an Geduld und an
der Fähigkeit, einander wirklich zuzuhören. Hätten wir eine flächendeckende Kultur von
DAZZ oder
würden wir eine solche Kultur begründen, indem wir uns in Gemeinschaft, mitmenschlicher Solidarität und im
geduldigen Zuhören üben, dann hätte sich die Verordnung von Antidepressiva in
Deutschland in den letzten 15 Jahren vielleicht nicht verdreifachen und sich die
Inanspruchnahme von Psychotherapie vielleicht nicht verdoppeln müssen. Der große
Vorteil von DAZZ ist,
dass es keiner aufwendigen akademischen Ausbildung bedarf. Mit etwas Übung und
der entsprechenden inneren Einstellung ist dazu jeder Mensch mit Herzensbildung
fähig.
27. Das Ich und die Ich-Funktionen in Abgrenzung vom Selbst
Die
wichtigsten Ich-Funktionen:
Beschreibung der einzelnen Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten (Ich-Funktionen)
|
Einschätzung ihrer Qualität
|
|||
A. Selbststeuerung
|
gut
|
mäßig
|
gering
|
|
1
|
Nach innen schauen, eigene
Bedürfnisse und Gefühle wahrnehmen
Fähigkeit
und Interesse, seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, seine eigenen
Bedürfnisse, Gefühle (positive wie negative), Gedanken und Fantasien wahrzunehmen, zu
spüren, was der eigene Körper braucht (zum Beispiel Schonung, Ruhe, Bewegung
oder Zärtlichkeit) und was ihm schadet (zum Beispiel Stress, Fehlernährung,
Konsum von Suchtmitteln)
|
|||
2
|
Für sich selbst sorgen
Fähigkeit,
für sich selbst zu sorgen und sich selbst zu schützen, so wie man auch für
einen anderen, zum Beispiel ein Kind, das man liebt, sorgen würde und das man
schützen würde
|
|||
3
|
Selbstkontrolle
Einsicht
und Fähigkeit, wichtige Dinge auch dann zu tun, wenn man keine Lust hat, und
sich zu kontrollieren, wenn man zum Beispiel ein starkes Verlangen nach
Alkohol, Zigaretten, Drogen, Sex, Spielen, Einkaufen und so weiter hat oder
wenn man am liebsten vor Wut etwas beschädigen oder einen anderen oder sich
selbst verletzen würde
|
|||
4
|
Klares Bild von sich selbst
Ein
klares Bild von sich selbst, der eigenen Identität, den eigenen Zielen,
Aufgaben und Rollen im Leben besitzen
|
|||
5
|
Abschirmung gegen eigene negative
Emotionen
Fähigkeit,
bei Bedarf einen inneren Schutzwall gegen negative Emotionen (zum Beispiel
Angst, Wut, Verzweiflung, Scham, Traurigkeit, Wertlosigkeit) zu errichten und
seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu konzentrieren, die mit positiven Emotionen
verbunden sind und geeignet sind, das innere Gleichgewicht wieder
herzustellen.
|
|||
6
|
Sich selbst annehmen und
wertschätzen
Fähigkeit,
sich selbst, so wie man ist, grundsätzlich zu akzeptieren und zu mögen, auch
dann, wenn man Fehler gemacht oder Rückschläge erlitten hat
|
|||
B. Realistische Wahrnehmung anderer
|
||||
7
|
Bedürfnisse und Gefühle anderer
wahrnehmen
Fähigkeit
und Interesse, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen,
sich in andere Menschen einzufühlen und die Reaktionen anderer Menschen
vorauszusehen
|
|||
8
|
Andere ganzheitlich wahrnehmen
Fähigkeit
zu erkennen, dass andere Menschen in der Regel sowohl gute, zu den eigenen
Bedürfnissen und Erwartungen passende Seiten als auch schlechte, den eigenen
Bedürfnissen und Erwartungen entgegenstehende Seiten haben (dass man nicht
einseitig nur die eine oder andere Seite sieht)
|
|||
9
|
Zwischen Eigenem und Fremdem
unterscheiden
Fähigkeit
zu erkennen und zu akzeptieren, dass andere Menschen Wünsche, Gefühle und
Meinungen haben, die sich von den eigenen unterscheiden
|
|||
C. Bindungen
|
||||
10
|
Beziehungen eingehen
Fähigkeit,
die emotionale Wichtigkeit anderer Menschen zu empfinden, mit positiven
Erwartungen mit anderen in Kontakt zu treten und anderen entsprechend
positive Gefühle zu zeigen
|
|||
11
|
Wertschätzung, Zuneigung und Hilfe
annehmen
Bedürfnis
und Fähigkeit, den positiven Gefühlen und Hilfsangeboten, die andere einem
entgegenbringen, zu vertrauen und sie anzunehmen
|
|||
12
|
Sich selbst gegen Ausbeutung und
Missbrauch schützen
Fähigkeit,
(zum Beispiel narzisstisch, sexuell oder finanziell) missbräuchliche
Beziehungsangebote zu erkennen und sich vor Beziehungen dieser Art zu
schützen
|
|||
13
|
Gute innere Bilder entwickeln
Fähigkeit,
aus den positiven Erfahrungen mit bestimmten Menschen ein stabiles und
positives inneres Bild dieser Menschen zu entwerfen, das auch in Abwesenheit
dieser Menschen eine hilfreiche, zum Beispiel beruhigende und ermutigende
Wirkung entfaltet
|
|||
14
|
Dauerhafte Bindungen eingehen und
aufrechterhalten
Bedürfnis
und Fähigkeit, mit anderen Menschen dauerhafte Bindungen einzugehen, sich
gegenseitig zu unterstützen und Gefühle von Fürsorge, Verantwortung und
Dankbarkeit zu empfinden
|
|||
15
|
Beziehungen schützen
Bereitschaft
und Fähigkeit, auf die Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen Rücksicht
zu nehmen, Regeln zu beachten, Gefühle von Gerechtigkeit und Schuld zu
empfinden
|
|||
16
|
Konflikte durchstehen und
Ausgleich suchen
Fähigkeit,
wenn nötig auch Konflikte und negative oder ambivalente Gefühle
durchzustehen, verbunden mit der Bereitschaft, immer wieder Kompromisse und
einen Ausgleich mit anderen zu suchen und zu finden sowie anderen ihre
Verfehlungen zu vergeben
|
|||
17
|
Beziehungen zu mehreren Menschen
und in Gruppen (variable Bindung)
Bedürfnis
und Fähigkeit, intensive Beziehung nicht nur mit einem einzigen Menschen,
sondern mit mehreren oder vielen Menschen und auch in Gemeinschaften einzugehen und mit verschiedenen Menschen
unterschiedliche Interessen und Befriedigungsmöglichkeiten zu teilen
|
|||
18
|
Selbstständig sein, Bindung lösen
Fähigkeit,
phasenweise auch alleine sein zu können, seinen eigenen Weg zu gehen und Beziehungen
zu beenden, wenn sie einem schaden oder die eigene Weiterentwicklung
behindern
|
|||
19
|
Angemessen trauern
Fähigkeit,
nach Trennungen und Verlust von wichtigen Menschen
angemessen zu trauern, seine Trauer mit anderen zu teilen, neue
Lebensperspektiven zu entwickeln und sich auf neue Beziehungen einzulassen
|
|||
Kommunikation
|
||||
20
|
Emotionale Kommunikation
Fähigkeit,
für die eigenen Emotionen und Impulse Worte oder eine andere, zum Beispiel
künstlerische Ausdrucksmöglichkeit zu finden, statt sie auszuagieren
|
|||
21
|
Nutzung und Kanalisierung der
eigenen Aggression
Fähigkeit,
das eigene aggressive Potenzial sozial verträglich zu nutzen, um sich gegen
unangemessene Forderungen oder Zumutungen anderer zur Wehr zu setzen, den
eigenen Interessen Gehör zu verschaffen und sie durchzusetzen
|
|||
22
|
Grundrespekt trotz negativer
Affekte
Fähigkeit
und Bereitschaft, negative Emotionen (zum Beispiel Enttäuschung, Ärger, Wut,
Verachtung) so auszudrücken, dass immer ein Grundrespekt erkennbar ist und
andere nicht verletzt werden
|
|||
Gesamtmaß für das Ich-Funktionen-Niveau (Strukturniveau)
|
Praktische Bedeutung der höheren Ich-Leistungen in der Psychotherapie
Ich hoffe,
es ist in den vorangegangenen Kapitel deutlich geworden, was unter Metarepräsentation und
Mentalisierung, Selbstüberprüfung, langfristiger Planung und
Korrektur von Routinen, Metakognition, Selbstreflexion und Perspektivenwechsel, Willensfreiheit, Verantwortungs- und Schuldfähigkeit, Gewissen, Werte- und Sinnempfinden sowie
Selbsttranszendenz zu
verstehen ist. Diese Gruppe besonderer Selbststeuerungs-
und Interaktionsfähigkeiten habe
ich unter der Bezeichnung „höhere Ich-Leistungen“ zusammengefasst. Von ihrer Qualität hängt ab,
1.
wie gut es uns gelingt, unser interaktives Verhalten
auch unter den verschiedensten Anforderungen nicht alltäglicher sozialer Kontexte zu regulieren und
2.
wie gut wir unser Selbsterleben auch dann
noch regulieren können,
a)
wenn es innerhalb von wichtigen Bindungen zu Konflikten kommt,
b)
wenn wir wichtige Bindungen verloren haben oder ein solcher Verlust droht,
c)
wenn wir mit unseren Grenzen konfrontiert
werden, vor allem mit den Grenzen unserer körperlichen und geistigen Gesundheit
und Leistungsfähigkeit, mit den Grenzen unserer Bedürfnisbefriedigung sowie mit der Begrenzheit unserer physischen
Lebenszeit.
Alle besprochenen höheren Ich-Leistungen spielen auch in
der Psychotherapie eine wichtige Rolle. Am grundlegendsten scheint
mir die Fähigkeit, dass wir im Geiste, also ohne eine physische Ortsveränderung,
den Standort wechseln können, von
dem aus wir auf uns selbst, auf andere Menschen und auf die Welt schauen. Der virtuelle
Standortwechsel befähigt uns, uns selbst, andere Menschen und die Welt aus
theoretisch beliebig vielen vorgestellten Perspektiven – Metaebenen –
betrachten zu können. Wir können entsprechend viele alternative
Wirklichkeitsmodelle entwerfen und auch wieder verwerfen. Mit
dieser Fähigkeit können wir – wenigstens partiell – aus dem Gefängnis des egozentrischen
naiven Realismus ausbrechen, in welches wir ansonsten
vollständig eingeschlossen blieben. Ich sehe drei Formen des virtuellen Perspektivenwechsels in der
Praxis als besonders wichtig an:
- Wir können die jeweilige individuelle Perspektive verschiedener Mitmenschen einnehmen.
- Wir können gemeinsam mit anderen eine überindividuelle, kollektive Sichtweise einnehmen.
- Wir können, insbesondere wenn wir uns einer monotheistischen Religion zugehörig fühlen, alleine oder mit anderen Gläubigen zusammen Hypothesen darüber bilden, wie eine übernatürliche Instanz, zum Beispiel Gott, die Dinge sehen könnte.
Alle diese
Erweiterungen unserer egozentrischen Perspektive sowie die daraus resultierenden
alternativen Wirklichkeitsmodelle und Verhaltensoptionen verbessern unsere Chance, verbessern auch die Chance
der Gemeinschaft, der wir angehören, geeignete Lösungen für
bestimmte Problemstellungen zu finden. Ohne die Fähigkeit des mentalen
Standortwechsels könnten wir uns nicht in andere Menschen einfühlen, ihr
Verhalten nicht verstehen und voraussehen. Wir könnten uns keine gemeinschaftlichen Werte zueigen machen, kein Gewissen, kein Verantwortungsgefühl und kein
Sinnerleben entwickeln. Aus der Metaposition heraus
sind wir in der Lage, das äußerst eingeengte Gesichtsfeld unseres Bewusstseins zu erahnen und die Angemessenheit unserer Wahrnehmungen, Interpretationen, Annahmen, Überzeugungen, Wertmaßstäbe und Wirklichkeitsmodelle anzuzweifeln. Der virtuelle Perspektivenwechsel befähigt uns, die Zuverlässigkeit und die Grenzen unserer eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu
hinterfragen, die Funktionalität und
Angemessenheit unserer erlernten Automatismen, Gewohnheiten und
Routinen zu
überprüfen, uns willentlich neuen Lernprozessen zu unterwerfen und neue
Verhaltensweisen zu
erproben.
Aus unserer virtuellen Metaposition heraus können wir erkennen, dass wir in unserem Willen, wenn überhaupt, nur in begrenztem Umfang
wirklich frei sind. Wir erkennen, dass Willensfreiheit vor allem
ein kollektiver Anspruch an
jeden von uns ist. Dass wir uns gegenseitig Freiheiten nur in dem Maß einräumen
können, in dem wir kollektive Werte und Normen verinnerlichen und uns für ihre Verwirklichung
verantwortlich fühlen. Dass unsere Schuldgefühle (wenn
sie ein gesundes Maß nicht überschreiten) dem Schutz von
Beziehungen, der Wiedergutmachung von
Regelverletzungen und
damit der Erhaltung von Bindungen dienen.
Dass unser soziales Zusammenleben nur auf der Grundlage funktioniert,
dass wir uns gegenseitig Verantwortungsfähigkeit zutrauen, dass wir innere moralische
Konflikte durchstehen und egoistische
Motive zurückstellen können, dass wir einen Willen zur Verantwortung und einen Stolz auf unsere Verantwortung entwickeln. Aus unserer
virtuellen Metaposition können wir natürlich auch die Welt als Ganzes und alle Werte in Frage stellen. Wir
sind sogar in der Lage, an uns selbst zu zweifeln – an unserem eigenen Wert,
unserer Bedeutung und Lebensberechtigung – und unserem Leben eigenhändig ein
Ende zu setzen. Umgekehrt können wir, wenn wir von etwas zutiefst überzeugt
sind, vollkommen aufgehen in der Hingabe und im
Dienst für eine Idee, eine Person, eine Gemeinschaft oder Gott.
Es liegt nahe, die Qualität der höheren Ich-Leistungen immer dann einer genaueren Untersuchung zu
unterziehen, wenn ein Mensch bestimmten Veränderungen, Anforderungen und Belastungen in seinem Leben nicht mehr
gewachsen ist und Krankheitssymptome entwickelt. Die Frage ist dann, welche Selbststeuerungs-
und Interaktionsfähigkeiten dieser Mensch ganz besonders benötigen würde,
um seine aktuellen Anforderungen und Belastungen bewältigen zu können, welche
dieser Ich-Funktionen ihm aber gerade nicht in ausreichender
Qualität zur Verfügung stehen. Hilfreich ist hierbei, das im Kapitel 27 vorgestellte
Ich-Funktionen-Niveau beziehungsweise
Strukturniveau zu bestimmen. Ein generelles Problem bei Patienten mit neurotischen Störungen sind
ihre pathologischen Metakognitionen: Viele von
ihnen grübeln, zweifeln, mutmaßen, klagen sich selbst oder andere an, ohne dass
ihre exzessive Reflexion zu befriedigenden Lösungen führt. Es fehlt in ihrem
Denken der entscheidende Standortwechsel, das Verlassen ihrer egozentrischen Benutzerillusion und das
Einnehmen einer echten Metaposition. Als psychodynamisch orientierter Psychotherapeut lade ich meine Patienten dazu ein, ihre gewohnte egozentrische
Benutzerillusion mit meiner Hilfe zu verlassen und sich selbst sowie ihre
Schwierigkeiten im Leben von verschiedenen virtuellen Metapositionen aus zu
betrachten.
Einen ersten
Perspektivenwechsel kann ich meinen
Patienten dadurch anbieten, dass ich ihnen Mitteilungen darüber mache, was ich
im Kontakt mit ihnen an ihnen und in mir selbst wahrnehme, was ich denke und
fühle, was ich befürchte und was ich mir wünsche. Die Gesamtheit der
körperlichen, emotionalen und kognitiven Reaktionen, die ich als Psychotherapeut
im Kontakt mit meinen Patienten zeige, heißt in der psychodynamischen
Fachsprache „Gegenübertragung“. Patienten können mir zum Beispiel sympathisch
oder unsympathisch sein. Ich kann mich über meine Patienten freuen oder ärgern,
mich um sie sorgen oder emotional erstaunlich unbeteiligt sein, mich von ihnen
geschmeichelt oder entwertet fühlen. Ich kann mich durch ihre Anwesenheit energetisiert
fühlen oder müde werden und Kopfschmerzen bekommen, ohne zunächst genau sagen
zu können, warum ich in dieser Weise reagiere. Diese Gegenübertragung
introspektiv bewusst wahrzunehmen und exakt zu beschreiben,
ist eines der wichtigsten Erkenntnismittel im Prozess des psychodynamischen
Verstehens von Patienten.[3]
Das Angebot eines Therapeuten, über viele Stunden für einen Patienten da zu
sein und ihm zuzuhören, ist eine indirekte, implizite Einladung an die
gehemmten und abgewehrten Antriebe und Wünsche des Patienten, sich innerhalb der
Therapiebeziehung aus ihrer
Deckung hervorzuwagen. Insgeheim wünscht sich ja jeder Mensch, dass seine
innersten Beziehungsanliegen von anderen Menschen wohlwollend gesehen und
positiv gespiegelt werden. Zugleich besteht aber die Angst, dass man mit diesen
Anliegen zurückgewiesen und wegen dieser Anliegen nicht geliebt wird. Beim
Neurotiker sind dringende Beziehungswünsche oft so stark gehemmt oder
abgewehrt, dass sie nicht bewusst sein dürfen. Trotzdem drängen sie – und zwar umso
stärker, je mehr sie abgewehrt sind – danach, sich in einer geeigneten
Beziehung, zum Beispiel in einer Liebesbeziehung oder eben in der
Therapiebeziehung, zu zeigen. In der Therapiebeziehung treten die unbewussten
Beziehungsanliegen des Patienten selbstverständlich nicht offen zutage. Der
Patient kann nicht einfach zum Therapeuten sagen: „Ich wünsche mir
von Ihnen das und das.“ Die Beziehungswünsche des Patienten manifestieren sich
vielmehr indirekt in dem besonderen Verhalten des Patienten oder zwischen den
Zeilen seiner verbalen Mitteilungen.
Als Therapeut kann ich die impliziten Beziehungsanliegen des Patienten folglich auch nicht einfach
direkt erfragen. Vielmehr bin ich auf meine Intuition angewiesen, muss die heimlichen Wünsche des
Patienten an mich erspüren und erahnen. Nicht selten bekomme ich von dem, was
der Patient von mir unbewusst erwartet, erst dann bewusst etwas mit, wenn
ich mich in einer auffallenden Gegenübertragung wiederfinde,
also an mir selbst eine deutliche emotionale oder körperliche Reaktion
beobachten kann. Oft kann ich meine eigene Reaktion auf einen Patienten erst
dann verstehen, wenn ich Hypothesen über die
nicht explizit aussprechbaren Aufträge des Patienten an mich formuliere. In der
folgenden Liste habe ich aus meiner Erfahrung als Psychotherapeut und
Supervisor eine Reihe von Beispielen für problematische implizite Aufträge
zusammengestellt, welche Patienten unbewusst an ihre Therapeuten richten
können:
·
Sei für mich ein ideales Gegenüber, so wie ich versuche, für
andere ein ideales Gegenüber zu sein.
·
Gib mir alles, was ich bislang entbehren musste.
·
Sage mir, was ich tun soll.
·
Übernimm alle Verantwortung für mich und mein Leben.
·
Erspare mir Anstrengung und Unbehagen.
·
Sei immer für mich da.
·
Lasse mich nicht allein.
·
Sage mir, dass alles gut wird.
·
Versichere mir immer wieder, dass mir nichts passieren kann.
·
Sorge dafür, dass für mich alles kontrollierbar ist.
·
Lasse dich von mir in meinem Bann ziehen. Wenn ich dich
fasziniere, spüre ich, dass ich bin.
·
Ich will die/der Erste und Wichtigste für dich
sein.
·
Zeige mir, dass du absolut vertrauenswürdig bist, indem du
mich völlig verstehst und die Welt so siehst wie ich.
·
Bestätige mir, dass die Welt (Menschen) schlecht und
ungerecht ist (sind).
·
Verbünde dich mit mir gegen die feindselige Außenwelt.
·
Weise dich als der Beste deines Faches aus.
·
Erweise dich als meiner würdig.
·
Zeige mir, dass ich toll bin.
·
Bewundere mich uneingeschränkt.
·
Diene mir bedingungslos.
·
Empfinde und denke wie ich; begehre das Gleiche wie ich
(Alter Ego).
·
Bestätige mir, dass mir nicht zu helfen ist.
·
Sieh mein Unglück, und gib mir zurück, was mir genommen wurde.
·
Büße du dafür, dass ich in meinem Leben nicht bekommen habe,
was ich gebraucht hätte.
·
Ich bin gescheitert, nun scheitere auch du an mir.
Aber gib niemals auf, dich um mich zu bemühen.[4]
Indem ich einem Patienten gegenüber – vorausgesetzt, sein Ich-Funktionen-Niveau erlaubt es – meine
Gegenübertragung und gegebenenfalls meine Hypothesen über seine impliziten
Beziehungsanliegen offenlege,
lade ich den Patienten zu einer gemeinsamen metakognitiven Betrachtung dessen
ein, was zwischen ihm und mir auf der Beziehungsebene vorgeht. Ich versuche insbesondere
in schwierigen oder emotional bewegenden Momenten, zusammen mit dem Patienten
gedanklich aus unserer gewohnten Beziehungssituation herauszutreten. Wir
verlassen sozusagen virtuell unsere Plätze, nehmen gemeinsam eine externe
Perspektive ein und betrachten unsere Interaktion aus einigem
Abstand. Auf diese Weise führe ich zum einen modellhaft vor, was ein
Perspektivenwechsel, also die Einnahme einer
Metaposition, ist. Zum
anderen kann der Patient von diesem neuen Blickwinkel aus neue Einsichten
darüber gewinnen, welche unbewussten Interaktionsmuster nicht nur in
der Therapiebeziehung mit mir, sondern auch in anderen wichtigen
Beziehungen des Patienten immer wieder ablaufen und ihm möglicherweise schaden.
Die Therapiebeziehung soll so zur bewusst reflektierten Modell- und
Arbeitsbeziehung werden. In ihrem geschützten Setting können
jene dringenden Beziehungsanliegen und Emotionen sowie neurotischen Konflikte und Beziehungsmuster aktiviert und
erlebbar werden, die auch außerhalb der Therapiebeziehung für die Kontakte des
Patienten bestimmend sind und dort nicht befriedigend bewältigt werden können.
Der gemeinsame Perspektivenwechsel hat noch einen weiteren wichtigen Vorteil: Die
gemeinsame Einnahme einer Metaposition verändert die Qualität der Therapiebeziehung von der komplementären zur symmetrischen Seite. Der Begriff der komplementären Interaktion geht
auf Gregory Bateson zurück
und bezeichnet ein Verhalten, welches das Verhalten einer anderen Person
ergänzt und von diesem Verhalten grundlegend verschieden ist. Wenn sich zum
Beispiel ein Interaktionspartner dominant verhält und ein zweiter darauf mit
Unterwerfung reagiert, handelt es sich um ein komplementäres
Beziehungsverhalten. Das inferiore Verhalten des einen verstärkt
wiederum das superiore Verhalten des anderen. Bateson nannte
eine Interaktion symmetrisch, wenn ein Interaktionspartner durch das Verhalten
eines anderen zu einem ähnlichen Verhalten provoziert wird. Das Ziel der
symmetrischen Interaktion ist Gleichheit. Als Beispiel für die symmetrische
Interaktion können Freundschaften unter Gleichaltrigen und
Gleichgeschlechtlichen gelten, in denen ausgewogenes Geben und Nehmen sowie
Rivalität kennzeichnend sind.[5]
Konkret sieht das so aus, dass ich meine Patienten – wenn es ihr Ich-Funktionen-Niveau beziehungsweise
Strukturniveau zulässt – bitte, meine Beobachtungen und Hypothesen, die ich ihnen über sie mitteile, grundsätzlich zu
überprüfen, zu hinterfragen und sie durch eigene Beobachtungen und Überlegungen
zu ergänzen und zu korrigieren. Mein Ziel ist, dass sich im Laufe des
Therapieprozesses zwischen dem Patienten und mir eine kooperative
Beziehungskultur entwickelt, die auch als Modell für die
Beziehungen des Patienten außerhalb der Therapiebeziehung geeignet ist. Während am Anfang der Therapie noch
ganz die Bedürfnisse des Patienten im Vordergrund stehen, bringe
ich mit fortschreitender Festigung der Vertrauensbeziehung immer mehr
auch meine eigenen Bedürfnisse ein. Ich verbalisiere
nicht nur, was ich mir f ü r den Patienten wünsche, damit es i h m besser
geht. Ich mache auch zunehmend deutlich, was ich mir v o m
Patienten für mich wünsche, damit es m i r mit ihm gut geht. Denn außerhalb der
Therapiebeziehung werden von wichtigen Menschen ebenfalls Erwartungen und Wünsche an den Patienten herangetragen. Es
macht daher keinen Sinn, den Patienten in der
Therapie allzu sehr und allzu lange komplementär zu versorgen und zu schonen.
Er soll ja auf die interpersonalen Anforderungen des Alltags realistisch vorbereitet werden.
Ein Kernanliegen aller psychodynamischen Therapieverfahren ist das
„Bewusstmachen“ jener unbewussten Antriebe, Bedürfnisse, Motivationen, Affekte, Hemmungen und Abwehrmechanismen des Patienten,
die in ursächlicher Beziehung zu seinen aktuellen Krankheitssymptomen stehen. Dieses Bewusstmachen
bedeutet natürlich nicht etwa, dass ich eine objektive Erkenntnis über das Seelenleben eines Patienten gewinnen
und ihm vermitteln könnte. Ich bilde ja immer nur Hypothesen, die im Extremfall eher etwas mit meinen eigenen unbewussten
Projektionen als etwas mit dem Unbewussten meiner
Patienten zu tun haben. Um die
Gefahr zu begrenzen, dass ich meine Patienten verzerrt wahrnehme und ihre
Probleme falsch interpretiere, treffe ich mich mit anderen erfahrenen Kollegen
zur Intervision. Wir überprüfen uns bei diesen Treffen
gegenseitig in unseren diagnostischen Einschätzungen und therapeutischen Vorgehensweisen.
Die Intervision (wie auch die Supervision, bei der ein erfahrener Psychotherapeut
einen Psychotherapeuten mit weniger Erfahrung berät) dient also der Überprüfung
und Qualitätssicherung der eigenen therapeutischen Arbeit mit Hilfe von
Berufskollegen.
Intervision und
Supervision sind
weitere Beispiele für den Perspektivenwechsel von
einer Metaebene aus.
So wie ich im Kontakt mit meinen Patienten Phänomene beobachte, die ihnen nicht
bewusst sind, und entsprechende Hypothesen bilde,
so erkennen meine Fachkollegen möglicherweise in dem, was ich ihnen über den
Therapieprozess mit
meinen Patienten berichte, meine „blinden Flecken“ oder Abwehrmanöver: Aspekte des Therapieprozesses, die mir entgangen sind, zum Beispiel
bestimmte Wahrnehmungen, Motivationen oder
Affekte, die ich aus irgendeinem Grund von meinem
Bewusstsein ferngehalten oder die ich schlichtweg übersehen habe, weil meine
Aufmerksamkeit von
anderen Aspekten beansprucht war. Mit Hilfe meiner Kollegen kann ich meine
bisherige Perspektive verändern, zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich des
Therapieprozesses gelangen und gegebenenfalls meine
Behandlungsstrategie korrigieren. Nehmen wir nun an, es gelinge mir als Therapeut tatsächlich, mit dieser Unterstützung gut
fundierte Hypothesen über den aktuell wichtigsten unbewussten inneren Konflikt eines Patienten zu formulieren. Nehmen wir
darüber hinaus an, dass diese Hypothesen auch dem Patienten plausibel und
geeignet erscheinen, seine aktuellen Probleme besser zu verstehen. Wird sich
infolge eines solchen tiefenpsychologischen Verständnisses der aktuelle innere
unbewusste Konflikt, der den Patienten krank macht, auflösen?
Natürlich nicht. Denn die beste metakognitive Einsicht
ändert ja nichts daran, dass die Auswirkungen eines oft schon seit der Kindheit bestehenden Grundkonflikts auf die
Persönlichkeitsorganisation des Patienten unvermindert fortbestehen. Das heißt,
die bisherigen tief einprogrammierten, unbewussten Selbststeuerungs-,
Interaktions-. Verhaltens-, Affekt- und Denkschemata des
Patienten bleiben trotz allen Verstehens zunächst wirksam. Das ist der Grund,
warum psychodynamische Psychotherapien, um nachhaltig zu wirken, in der Regel
fünfzig, mitunter – als analytische Psychotherapie – sogar bis
zu dreihundert Sitzungen von je fünfzig Minuten benötigen. Dauerhafte heilsame
Veränderungen stellen sich oft erst in einem ein- bis
mehrjährigen Prozess ein. In diesem Prozess nimmt die Beziehung zwischen
Patient und Therapeut eine Schlüsselrolle ein, nicht aber etwa deshalb, weil wir
Therapeuten so großartige Theorien und wirksame Methoden besitzen. Die
Psychotherapieforschung lehrt uns vielmehr, dass die Hauptarbeit der Patient
selbst leistet. Die wichtigste Funktion des Therapeuten ist, seine Patienten immer
wieder zu ermutigen und ihnen den
Rücken zu stärken, damit sie den notwendigen, aber mühsamen und langwierigen
Veränderungsprozess durchstehen.
Dazu muss die Vertrauensbeziehung stimmen. Als
Therapeut versuche ich folglich, mein therapeutisches Angebot so zu gestalten,
dass meine Patienten gerne zu mir kommen, selbst dann, wenn die in der Therapie
besprochenen Themen peinlich oder beunruhigend für sie sind oder wenn sie sich
schämen oder sich schuldig fühlen, zum Beispiel weil sie schädliche Verhaltensweisen wiederholt,
Vereinbarungen nicht eingehalten oder gesteckte Ziele verfehlt haben. Vor allem am Anfang der
Behandlung ist es notwendig, Patienten den Raum zu geben, in ihrer Weise alles,
was ihnen am Herzen liegt, mitzuteilen. Die Kunst des Anfangs besteht
wesentlich im aufmerksamen, geduldigen, Anteil nehmenden und sich verfrühter Wertungen und Ratschläge
enthaltenden Zuhören des
Therapeuten, der zugleich – mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit – seine eigene Gegenübertragung beobachtet.[6] Ich erwähnte
bereits am Ende des Kapitels 26 das
Prinzip DAZZ (Dasein,
Zeit haben und
Zuhören), das für sich allein schon wirksam ist und leidende Menschen tröstet, entlastet,
entängstigt und ermutiget.
Wichtig ist auch,
den Patienten nicht zu irgendwelchen Selbstoffenbarungen zu drängen. Das psychodynamisch
Wesentliche wird er früher oder später von selbst mitteilen, sei es direkt
verbal oder – meist unbewusst – indirekt,
zwischen den Zeilen. Der Patient kann wichtige unbewusste Mitteilungen auch
nonverbal machen, das heißt über die Ausdrucksmittel seines Körpers oder durch
sein Verhalten in der Beziehung zum Therapeuten (zum Beispiel durch
Zuspätkommen, die Absage von Terminen oder häufige Kontaktaufnahmen außerhalb
der regelmäßigen Sitzungen). Als Therapeut kann ich den Patienten auf seine
indirekten oder nonverbalen Mitteilungen aufmerksam machen, indem ich
beschreibe, was ich wahrnehme. Wenn sich ein Patient jedoch gegen meine
Beobachtungen wehrt, sie nicht wahrhaben will oder sich durch sie gekränkt
fühlt, liegt – falls ich mich nicht einfach geirrt habe – möglicherweise ein sogenannter
Widerstand vor.
Das, womit ich den Patienten konfrontiere, ist dann offensichtlich derart
bedrohlich, dass sich der Patienten wehren
m u s s, um nicht destabilisiert zu werden.
Widerstände sind unbedingt zu respektieren, sie schützen den Patienten
und den Bestand der Therapiebeziehung. Im Regression fördernden
Setting der analytischen Psychotherapie spielt die
Arbeit am Widerstand eine große Rolle. Denn gerade die im
Therapieprozess offensichtlich
werdenden Antriebe und Affekte des Patienten, gegen deren Bewusstmachung er
sich vehement wehrt, scheinen psychodynamisch von größter Bedeutung zu sein. Je
dringlicher ein Antrieb ist und je gravierender die mit diesem Antrieb
verbundenen inneren Konflikte und Affekte sind, desto massiver ist nach psychoanalytischen
Verständnis die Abwehr, der innerpsychische
Mechanismus der Unbewusstmachung von Antrieb, Konflikt und Affekt. Entsprechend sensibel und geduldig muss die
therapeutische Arbeit am Widerstand sein. Im Regression begrenzenden Setting
der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die mit einem Drittel des
Sitzungskontingents der analytischen Psychotherapie auskommen muss, wird der
Behandlungsfokus hingegen deutlich weniger auf der Arbeit am Widerstand liegen.
Nach meiner Erfahrung als Supervisor wird oft verkannt, dass es sich bei
einem scheinbaren Widerstand eines Patienten in Wirklichkeit um ein
strukturelles Defizit handelt. Das Ich-Funktionen-Niveau beziehungsweise Strukturniveau vieler Patienten ist einfach überfordert, wenn
ihre Therapeuten beispielsweise ihre Gegenübertragung offenlegen
und psychodynamische Hypothesen über die
unbewussten Intentionen der Patienten
oder über den Zusammenhang ihrer aktuellen Probleme mit den Bedingungen ihrer
Kindheit formulieren. Viele
Patienten sind zu dem Perspektivenwechsel, zu dem sie ihre
Therapeuten einladen, strukturell einfach nicht in der Lage. Nicht selten sind
es die Patienten selbst, die ausdrücklich den Wunsch äußern, mit Hilfe ihrer
Therapeuten ihre Probleme intellektuell besser verstehen zu können. Als
Therapeut ist man versucht, das Ich-Funktionen-Niveau solcher Patienten – insbesondere
wenn sie ein höheres Bildungsniveau haben und beruflich erfolgreich sind – zu
überschätzen. Es besteht dann die Gefahr, dass Therapeut und Patient gemeinsam beispielsweise
über die frühkindlichen Ursachen für unbewusste Konflikte des Patienten räsonieren, ohne dass der
Patient bei der praktischen Bewältigung seiner aktuellen Lebensschwierigkeiten die
wünschenswerten Fortschritte macht.
Als Supervisor bestehe ich daher grundsätzlich darauf, dass bei jedem
Patienten das Ich-Funktionen-Niveau bestimmt wird,
zum Beispiel nach den in Kapitel 27 aufgeführten Kriterien. Denn ein hoch
bezahlter Beruf, eine brilliante Ausdrucksweise und selbst der Abschluss eines
medizinischen oder psychologischen Hochschulstudiums schließen keineswegs aus,
dass ein Mensch an schwerwiegenden strukturellen Defiziten leidet, beispielsweise in der Impuls-, und
Affektsteuerung oder in der
Regulierung des Selbstwertgefühls. Ein Mensch kann überaus kultiviert und
erfolgreich und dennoch dem Alkohol verfallen, ständig von Selbstzweifeln gequält
und vom Suizid bedroht sein. Menschen
mit erheblichen strukturellen Defiziten haben
in der Regel schon früh in ihrem Leben, lange bevor sie sprechen konnten, Erfahrungen
von unsicherer Bindung oder
sogar Traumatisierung gemacht. Solche Erfahrungen sind verbal kaum
erreichbar. Die übliche Strategie psychodynamisch fundierter Psychotherapeuten,
Worte für unbewusste Erfahrungen und Konflikte des
Patienten zu finden, funktioniert hier nicht.
Wenn strukturelle
Defizite im
Vordergrund stehen, bedarf es einer besonderen Behandlungsstrategie, bei der
die Haltung und das nonverbale Verhalten des Therapeuten für die therapeutische
Wirkung wichtiger sind als die intellektuellen Inhalte des Gesprächs.[7] Eine Hauptaufgabe des Therapeuten besteht
darin, sich als geduldiges, wohlwollendes, belastbares und ausdauerndes
Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Wesentlich ist, dass es gelingt, die Therapiebeziehung über
einen längeren Zeitraum (bis zu mehreren Jahren) zu erhalten und zu festigen.
Diese Beziehung kann nicht nur durch instabile Bindungsmuster, primitive Abwehrvorgänge, abrupte
Selbstschutzmanöver und Rückzugstendenzen
des Patienten ständig gefährdet sein, sondern auch durch die negative
Gegenübertragung des
Therapeuten. Die größte Herausforderung für den Therapeuten ist, das
problematische Verhalten des Patienten nicht persönlich zu nehmen und es nicht als
etwas vorsätzlich Destruktives zu interpretieren, das der Patient absichtsvoll gegen
den Therapeuten richtet. Man muss sich als Therapeut immer wieder klarmachen,
dass der Patient (noch) nicht anders kann, als sich so zu verhalten, wie er es
aktuell tut. Bestimmte Ich-Funktionen stehen ihm
aufgrund ungünstiger Entwicklungsbedingungen in seiner Kindheit einfach (noch) nicht zur Verfügung.
Als Therapeut versuche
ich bei strukturell gestörten Patienten, eine „beelternde“ Haltung einzunehmen
und ihnen einen Teil ihrer Verantwortung, zum Beispiel für problematische Impulse oder
mangelndes Mitgefühl, zu erlassen. Trotzdem werde ich sie als Urheber ihres
Verhaltens ansprechen und ihnen zumuten, für ihr Verhalten zunehmend
Verantwortung zu übernehmen und funktionalere Bewältigungsformen für ihre
strukturellen Einschränkungen zu erwerben. Auch bei strukturell gestörten
Patienten ist ein Perspektivenwechsel, ein veränderter Blick auf sich selbst und
die eigenen Schwierigkeiten, notwendig und möglich. Ich arbeite mit dem folgenden einfachen und
allgemein verständlichen Modell, um meinen Patienten deutlich zu machen, worum
es in der Therapie geht:
Bewusstsein: Symptomentstehung |
Die Symptome, unter
denen ein Patient leidet, zum Beispiel Angst, Depression oder
psychosomatische Beschwerden, sind der Hauptgrund dafür, dass er
sich überhaupt in psychotherapeutische Behandlung begibt. Der mit den Symptomen
verbundene Leidensdruck ist in
der Regel der wichtigste Motivationsfaktor für die Behandlung. Die meisten
Patienten wollen die Ursache für ihre Symptome verstehen, und jeder Patient
will seine Symptome los werden. Deshalb muss für die Patienten immer erkennbar
bleiben, dass die Psychotherapie auf
die Verminderung ihrer Beschwerden ausgerichtet ist. Jeder Patient hat Wünsche
an sein Leben, an seine Mitmenschen, an seinen Therapeuten. Wenn wichtige
Wünsche dauerhaft an ihrer Befriedigung gehindert werden, treten negative Affekte und nicht
selten psychische oder/und psychosomatische Krankheitssymptome auf.
Häufig stehen die
Anforderungen unseres
Lebens, vor allem jene, welche das soziale Umfeld und
der Beruf an uns stellen, wichtigen eigenen Wünschen entgegen. Grundsätzlich
steht jeder von uns im Konflikt zwischen seinen eigenen Wünschen und den Anforderungen
seines sozialen Umfelds. Um diesen Anforderungen und zugleich unseren eigenen
Bedürfnissen gerecht zu werden, um eine ausgewogene Balance
zwischen beiden herzustellen, sind wir mit den schon erwähnten Ich-Funktionen
beziehungsweise Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten ausgestattet. Die
meisten Menschen wissen jedoch gar nicht, dass sie diese Fähigkeiten haben. Eine
wesentliche Aufgabe von Psychotherapie besteht darin zu untersuchen, wie gut Patienten
jeweils mit diesen Fähigkeiten ausgestattet sind. Anhand des Profils der
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten (Kapitel 27) erkläre ich meinen Patienten in möglichst
einfachen Worten, worin diese Fähigkeiten im Wesentlichen bestehen.
Der Vorteil einer
solchen Auflistung von Ich-Fähigkeiten ist, dass sie zur Selbstreflexion und
zum Perspektivenwechsel einlädt. Wer sich mit einer solchen Liste von
Ich-Funktionen beschäftigt,
fragt sich unwillkürlich, welche Fähigkeiten bei sich selbst gut ausgeprägt und
welche Fähigkeiten vielleicht unzureichend sind, und entwickelt das wichtige
Bewusstsein dafür, dass mit Willensanstrengung, Faktenwissen und
Intellekt allein die Anforderungen des
Lebens nicht bewältigt werden können. Praktisch gehe ich so vor, dass ich erst
einmal alle jene Fähigkeiten hervorhebe, die bei meinen Patienten relativ gut
entwickelt sind. Es ist eine gute Übung für uns Therapeuten, inmitten der vielen
Probleme und Defizite unserer
Patienten möglichst alle ihre Ressourcen zu
entdecken. Es dient der Stabilisierung unserer Patienten, wenn wir ihre
vorhandenen Fähigkeiten und positiven Ziele sowie die
Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld erkennen
und dafür sorgen, dass diese Ressourcen auch genutzt werden. Grundsätzlich ist
danach zu fragen, welche Schwierigkeiten ein Patient in der Vergangenheit bereits
auf welche Weise und mit welcher Unterstützung bewältigt hat.
Ich erkläre meinen Patienten, dass die
aufgelisteten Fähigkeiten vor allem am Vorbild der
Eltern erworben werden, dass der Erwerb dieser
Fähigkeiten nicht bewusst und nicht durch Willensanstrengung, sondern automatisch erfolgt und wesentlich
davon abhängt, wie gut die Eltern selbst über diese Fähigkeiten verfügen. Dann
gehe ich die Liste der Ich-Funktionen mit meinen Patienten durch und frage sie,
wie gut die einzelnen Fähigkeiten bei Mutter und
Vater ausgeprägt sind beziehungsweise früher
ausgeprägt waren. Die gemeinsame Betrachtung der Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten der Eltern
des Patienten stellt eine weitere Metaperspektive dar, die ich zusammen mit
meinen Patienten einnehme. Für die meisten Patienten ist diese Perspektive neu.
Sie sehen die Unzulänglichkeiten der Eltern nun nicht mehr nur aus dem engen Blickwinkel
des ehemaligen Kindes, das sich beispielsweise verletzt, vernachlässigt oder
ungerecht behandelt fühlte, sondern zunehmend auch mit den Augen eines
distanzierten erwachsenen Betrachters, der erkennt, dass den Eltern eine Reihe
wichtiger Ich-Funktionen einfach nicht im wünschenswerten Maße zur
Verfügung stand und steht.
Mit diesem Umweg
über die Fähigkeiten und Defizite der
Eltern taste
ich mich an die Thematisierung der strukturellen Defizite meiner Patienten
heran. Häufig scheinen bestimmte Ich-Funktionen bei
den Patienten besser entwickelt zu sein als bei den Eltern. Ich frage meine
Patienten, bei welchem Menschen sie diese speziellen Ich-Funktionen erworben
haben, und würdige ihre besondere Lernleistung. Oft werfen die Patienten die
Frage nach ihren strukturellen Defiziten selbst
auf. Statt aber meinen Patienten zu sagen: „Sie haben meines Erachtens das und
das Defizit“, und sie damit möglicherweise zu kränken, versuche ich, gemeinsam
mit meinen Patienten herauszufinden, welche besonderen Herausforderungen ihr
Leben aktuell an sie stellt und welche Entwicklungsaufgaben gerade
anstehen. Ich erarbeite gemeinsam mit ihnen, welche besonderen Fähigkeiten
angesichts dieser Anforderungen und
Aufgaben besonders gebraucht werden. Ich frage meine Patienten, wie sich die
Eltern oder Geschwister des Patienten in ähnlichen Anforderungssituationen verhalten
beziehungsweise verhalten haben.
Trotz aller
Behutsamkeit bleibt es selbstverständlich mein Ziel, dass meine Patienten rasch
Klarheit über ihre Fähigkeiten und Defizite gewinnen. Es ist auch in der Ausbildung von angehenden
Psychotherapeuten mein Anliegen, dass diese erkennen, wo ihre strukturellen
Stärken und Schwächen liegen. Unser Wissen um unsere eigenen Defizite hat den
großen Vorteil, dass wir damit relativ leicht verstehen können, warum wir in bestimmten
Anforderungssituationen mehr
als andere unter Druck geraten, in solchen Situationen immer wieder scheitern,
krank werden oder solche Situationen gewohnheitsmäßig vermeiden (und uns damit
möglicherweise wichtiger Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten berauben). Nicht
nur in der Ausbildung von Psychotherapeuten und in der Patientenbehandlung,
sondern auch im kollegialen Austausch mit anderen Therapeuten geht es mir
darum, dass sich jeder in seinem schicksalhaften strukturellen Gewordensein und
mit seiner jeweiligen individuellen Ausstattung an Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten erst
einmal annimmt, auch mit all dem, was einem fehlt. Gerade in der strukturbezogenen
Psychotherapie gilt,
dass jeder Mensch ist, wie er ist, und dass er auch so bleiben dürfen soll. Als
Therapeut kann man die grundlegende Struktur seiner Patienten wahrscheinlich
ohnehin nicht sehr verändern. Versucht man es trotzdem, richtet man vielleicht
mehr Schaden an, als man nutzt.
Eine tief greifende
Veränderung der
Struktur ist meines Erachtens in der Regel auch nicht notwendig. Sobald ein
Patient seine eigenen strukturellen Schwachstellen kennt und auch die
Anforderungssituationen, die aufgrund dieser Defizite besonders kritisch sind, hat er – anders als
zuvor – eine Wahlmöglichkeit. Er muss nicht mehr fortlaufend bestimmte
schmerzvolle Erfahrungen unbewusst wiederholen. Er hat zunehmend die Möglichkeit,
sich zum Beispiel gezielt Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld oder
institutionelle Hilfe zu holen. Eine zentrale Aufgabe der Therapiebeziehung besteht darin, die Fähigkeit des Patienten zu
entwickeln, geeignete Hilfe zu suchen und auch anzunehmen. Die
Therapiebeziehung ist dafür ein Modell. In der Regel werde ich als Therapeut
ein besseres Ich-Funktionen-Niveau aufweisen als meine Patienten. Ich stelle
bestimmte Ich-Funktionen zur
Verfügung, die meinen Patienten fehlen. Beispielsweise kann ich Paargespräche
führen, wenn ein zermürbender Partnerschaftskonflikt nicht gelöst werden kann,
weil die Affektsteuerung, die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die
emotionale Kommunikationsfähigkeit eines
Patienten (und oft auch des Partners) unzureichend sind. Wenn ich als Therapeut
als hilfreich erlebt werde, gewinnen meine Patienten zunehmend Vertrauen in mein
Hilfsangebot. Mein Ziel aber ist, dass meine Patienten – spätestens nach
Beendigung der Therapie – unabhängig von mir andere Hilfsangebote finden und
nutzen können. Ich schaue mich daher schon früh im Therapieprozess nach
den sozialen Ressourcen meiner
Patienten um und ermutige sie, sich auch außerhalb der Therapie alle geeigneten
Unterstützungsmöglichkeiten zu erschließen.
Im Kapitel 32
sprach ich von „Lernen durch Liebe“ im Sinne einer Verinnerlichung
wichtiger Fähigkeiten und Werte am konsistenten positiven Modell der Eltern oder anderer Bezugspersonen in einer
Atmosphäre sicherer Bindung. Dieser überaus wirksame soziokulturelle Lernmechanismus spielt
wahrscheinlich auch in Therapiebeziehungen eine große Rolle. Bei einer guten
Patient-Therapeut-Beziehung ist davon
auszugehen, dass sich die Patienten mit Teilaspekten der Persönlichkeit ihrer
Therapeuten (vor allem mit Fähigkeiten, die aus der Sicht der Patienten
erstrebenswert sind) identifizieren und
dass sie diese Teilaspekte sowie für sie neuartige positive (korrektive)
Erfahrungen innerhalb der Therapiebeziehung in
sich aufnehmen. Therapeuten können je nach Geschlecht auch als Modell für die
spezifische Rolle ihrer Patienten als Mann oder als Frau dienen. So kann zum
Beispiel eine Patientin bei ihrer Therapeutin genau jenes positive Vorbild für
Weiblichkeit, Sexualität, Emanzipation oder Mutterschaft finden, das
sie bei der eigenen Mutter vermisst hat. Im Kapitel 8 über Interaktion,
Lernen und die Rolle der Spiegelneuronen wies ich bereits darauf hin, dass
Modelllernen umso
wahrscheinlicher ist, je intensiver die emotionale
Beziehung zwischen dem Lernenden und seinem Vorbild ist.
Das Modelllernen ist
nicht auf explizite Instruktion angewiesen. Veränderungen stellen
sich auch durch nonverbale, implizite Prozesse ein. Es geht gerade in der
strukturbezogenen Psychotherapie weniger
darum, dass Therapeuten viel erklären, sondern vielmehr darum, vorzumachen, wie
man mit schwierigen interpersonellen Situationen und Herausforderungen, welche strukturgestörte
Patienten in der Therapiebeziehung oft
reichlich liefern, anders umgehen kann, als die Patienten es bisher kennen.
Nach der klassischen psychoanalytischen Theorie finden Identizierungen mit
einem elterlichen Vorbild gerade
dann besonders intensiv statt, wenn das Ich (klassisch in der Phase der Auflösung des
Ödipus) auf die Befriedigung kleinkindhafter Bedürfnisse zunehmend
verzichten muss. Günstige Identifizierungsprozesse sind folglich dann am
ehesten zu erwarten, wenn die Patienten in einer wohlwollenden Atmosphäre der
Therapiebeziehung einerseits emotional ausreichend andocken können,
andererseits aber nicht durch ein allzu komplementär versorgendes
Beziehungsangebot ihrer Therapeuten in eine regressiv-passive Erwartungs- und
Abhängigkeitshaltung gedrängt werden. Das Ich wächst am Verzicht,
vorausgesetzt, die zugemutete Verzichtleistung wird nicht als kränkend oder
bedrohlich erlebt.
Psychotherapie soll nachhaltige
Lern- und Veränderungsprozesse auf den Weg bringen. Die Patienten sollen jene
Fähigkeiten erwerben, die ihnen erlauben, die aktuellen Anforderungen und Entwicklungsaufgaben ihres Lebens
so zu bewältigen, dass ihre Bedürfnisse sozialverträglich befriedigt werden und dass das
unvermeidliche Maß an Inkonsistenzspannung so weit reduziert wird, dass die Patienten
keine Symptome mehr ausbilden müssen. Damit Patienten neue Fähigkeiten erwerben
und sich aus ungünstigen Lernerfahrungen ihrer
Vergangenheit befreien können, ist es wichtig, dass sich im
Rahmen des Therapieprozesses ihre sozialen
Kontexte verändern. Eine erste Kontextveränderung ergibt sich
durch die Therapiebeziehung. Sie erweitert das soziale Umfeld der
Patienten oft wesentlich. Viele Patienten bekommen in der Therapie erstmals in
ihrem Leben ein so hohes Maß an wohlwollender Aufmerksamkeit und
Gelegenheit, so viel über sich selbst mitteilen zu können. Bei Patienten, die
in dyadischen Konstellationen leben, also emotional auf nur einen einzigen
anderen Menschen bezogen sind, erfolgt durch die Therapiebeziehung eine
Triangulierung: Der Therapeut wird der Dritte im Bunde, wodurch sich die
Dynamik der bisherigen dyadischen Beziehung erheblich verändern kann. Neue
Kontexte gehen
mit Veränderungen der
Perspektive einher und induzieren Lernprozesse, die mit therapeutischer Unterstützung in
eine förderliche Richtung gelenkt werden können.
In seelischer Not folgen
viele Menschen dem Impuls, sich aus sozialen Kontakten zurückzuziehen. Der
Vorteil eines solchen Rückzugs besteht darin, dass die Patienten gewohnte
Kontexte, die sie zunehmend in dysfunktionalen Automatismen und
Routinen gefangen halten, verlassen. Auf Dauer wirkt
sich jedoch ein sozialer Rückzug oder der ausschließliche Kontakt mit den engsten
Vertrauten (die meist zunehmend hilflos werden) nachteilig aus und verschärft
den Leidenszustand. Soziale Kompetenzen gehen
verloren. Am besten lassen sich die defizitären Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten durch häufige und intensive soziale Kontakte
trainieren, beispielsweise in Gruppen und Gemeinschaften, die eine funktionierende Kultur des
wertschätzenden Miteinanders entwickelt haben und die sich mit Sinn und Freude stiftenden Dingen beschäftigen. Wenn die Ich-Funktionen starke Defizite aufweisen,
werden intensive soziale Kontakte verständlicherweise oft als anstrengend,
beunruhigend, verwirrend, beschämend oder sogar bedrohlich erlebt. Deshalb
benötigen Patienten oft den geschützten Rahmen einer Einzel- oder
Gruppenpsychotherapie oder von Selbsthilfegruppen. Auch Religionsgemeinschaften
stellen Hilfsangebote, im Einzelgespräch oder in der Gruppe, zur Verfügung.
Grundsätzlich verfolge ich mittelfristig und langfristig das
therapeutische Ziel, dass meine Patienten ihre sozialen Kontakte intensivieren,
ihre sozialen Kompetenzen trainieren und ihre sozialen
Befriedigungsmöglichkeiten erweitern. Dazu gehört auch, dass manche Patienten lernen,
sich gegen allzu viele oberflächliche oder dysfunktionale Kontakte abzugrenzen,
dass sie selektiver in der Auswahl ihrer Freunde werden und sich auf solche
Beziehungen fokussieren, welche ihre Entwicklung und die Erfahrung gemeinsamen
Sinnerlebens fördern.
[1] M. Donald, 2008, S. 126.
[2] Das Strukturniveau ist in
der Operationalisierten
Psychodynamischen Diagnostik (OPD) ein Maß
für den Reifegrad der psychischen Funktionen, vor allem hinsichtlich der
Fähigkeiten, die ein Mensch erwerben muss, um den Anforderungen im
Kontakt mit anderen Menschen gewachsen zu sein und sich selbst zu steuern. Wir
kommen im Kapitel 27 auf das Strukturniveau zurück.
[3] Ich habe
das Thema der Gegenübertragung ausführlich dargestellt in meinem 2005
erschienen Buch „Wirksam behandeln. Bewusste und unbewusste Aufträge in der Psychotherapie, Medizin und Supervision“, Bonn: Deutscher Psychologen Verlag.
[4] Udo Boessmann und Arno Remmers, 2008:
„Behandlungsfokus“, Bonn: Deutscher Psychologen Verlag.
[5] G. Bateson, 1958: „Naven“, Stanford University
Press.
[6] Für das ebenfalls notwendige strukturierte
Erstinterview nutze ich zwei Fragebögen, abgedruckt in: U. Boessmann, A. Remmers, 2011: „Das
Erstinterview. Praxis der psychodynamischen Anamneseerhebung, Diagnostik,
Indikationsstellung und Therapieplanung“, Berlin: Deutscher Psychologen Verlag. Sie können auch
auf dem Portal www.bericht-online.de
kostenlos heruntergeladen werden.
[7] Gerd Rudolf (2004:
„Strukturbezogene Psychotherapie –
Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen“, Stuttgart:
Schattauer) hat eine spezielle strukturbezogene Diagnostik und
Behandlungstechnik entwickelt, die auch in der Strukturachse der
OPD ihren Niederschlag fanden.
Impressum
Dr. med. Udo Boessmann
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